Von der Anstrengung, am Leben zu sein

„Kleine Dinge wie diese“ von Claire Keegan, erschienen bei Steidl

Nach allem, was allein in den letzten Jahren ans Tageslicht kam, ist die Institution Kirche erledigt. Und zwar weltweit. Ihr Versagen zeichnet keine Häufung von kriminellen Einzelfällen, sondern auch dieser Fisch stinkt vom Kopf her. Dass es trotzdem noch so viele Menschen gibt, die Trost bei ihr suchen, kann einen ratlos zurücklassen. Argumente wie ihre Strahlkraft für des Menschen Suche nach einer Feste, ihre Kulturleistung, ihre karitative Arbeit ändern daran gar nichts.

Es lasse der Mensch, ob konfessionell gebunden oder nicht, sich nicht den Schneid abkaufen. Mensch sein, menschlich, mitmenschlich – das ist das Maß, das Claire Keegan in ihrem Roman anlegt.

Ein Leben in geordneten Bahnen

Auf gerade mal 108 Seiten erzählt sie von einem Kohlen- und Holzhändler im irischen New Ross, Billy Furlong sein Name. Mit seiner Frau Eileen zieht er die gemeinsamen Töchter auf, die er über alles liebt und über die er schützend seine Hände hält. Er hat sein Glück gefunden und sein Auskommen, sein Leben läuft in geordneten Bahnen. Und doch empfindet er deutlich die Anstrengung, „am Leben zu sein“.

Denn dieses Leben ist immer dasselbe. Billy Furlong fällt diese Getriebenheit auf, ob auf Arbeit oder zu Hause, „immer gingen sie mechanisch und ohne Pause zur nächsten anstehenden Aufgabe über. Wie ihr Leben wohl aussehen würde…, wenn man ihnen Zeit zum Nachdenken gäbe…würden sie die Kontrolle verlieren“?

Das kalte Draußen und heißer Tee

Mit diesen Fragen steht Furlong nicht allein und auch nicht mit der Wahrnehmung der anderen Seite der Medaille. So schätzt er diese Routine, kaum dass sie mal aussetzt, und ein Teil von ihm wünschte dann, „er könne sich…im Räderwerk einer normalen Woche verlieren“.

Es ist das Jahr 1985. Die Weihnachtswoche. Eine Zeit der Besinnung und Innenschau, in der Kälte und Wärme krass gegeneinander stehen und frösteln machendes Schneegestöber und Kaminhitze und das kalte Draußen und heisser Tee. Der nahende Heilige Abend zeichnet alle Gegensätze derber, stellt alle Fragen lauter als sonst.

Wie die heile Welt plötzlich verschattet

Es gibt im Ort ein Kloster mit Wäscherei. Dort arbeiten viele junge Mädchen und Frauen, über die es Gerüchte gibt. Gefallene Mädchen seien sie. Furlong beliefert das Kloster kurz vor Weihnachten mit Kohle und entdeckt dabei ein eingesperrtes Mädchen. Diese Begegnung ändert alles für den einfachen Mann. Es gärt in ihm, etwas ungeheuerliches gesehen zu haben und danach „wie ein Heuchler zur Messe gegangen“ zu sein.

Die kleine feine Geschichte erzählt, wie Furlongs heile Welt, die ja auch unheilig hätte werden können, plötzlich verschattet. Der Leser wird hineingezogen in sein Seelenleben, sein Gewissen, seinen Konflikt. Furlong ist in innerer Aufruhr. Erst bekommt sein Leben Kratzer, dann gibt es den großen Knall, der wie ein Schock wirkt, aber auch ein Befreiungsschlag ist.

Die Geschichte des Bill Furlong erhebt sich weit über das, was über die Wäschereien in Irland ans Tageslicht kam. Folge Deinem Gewissen, Deinen Werten, öffne Dein Herz sind universelle Appelle. Gültig gestern, heute und morgen, in Wäschereien, Flüchtlingsbewegungen, Kriegen.

„Kleine Dinge…“ ist sehr ansprechend aufgemacht, wie ein kleiner Schatz, den man hüten will, mit geheimnisvoll kohlenschwarz und nachtblau leuchtendem Rabenvogel auf dem Leineneinband.

Claire Keegan „Kleine Dinge wie diese“ Steidl Verlag, Roman, aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser, 108 Seiten, 18 Euro

Beate Lemcke im April 2022

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