Zauberland unterm Schleier der Normalexistenz

Frühe Sciene-Fiction von Fitz-James O’Brien im Steidl Verlag

Man stelle sich vor, das ach so vertraute heimische Zimmer hätte plötzlich andere Gestalt angenommen. Verwandelt hat sich sein Interieur. Es birgt kaum mehr die Gegenstände, die man in- und auswendig kennt und gibt mithin nicht mehr Geborgenheit. Verwunderung darüber wandelt sich zu Unbehagen zu Grausen. – Der Verlust eines Zimmers ist ein Verlust von Sicherheit, Erinnerungen und Identität. Es ist Fitz-James O’Brien, der uns literarisch in diese Welt der Irritationen, der Dämonen und des Zaubers führt.

Mit Anfang/Mitte vierzig war sein Leben schon vorbei und das ist schade, denn allein die drei im Bändchen „Die Diamantlinse“ versammelten Erzählungen, teilweise erstmals in deutscher Übersetzung, machen Appetit auf sehr viel mehr. Fitz-James O’Brien wurde 1824 (vielleicht auch erst 1828) als Michael O’Brien in der irischen Grafschaft Cork geboren. Der Sprössling aus irischem Landadel, Sohn des erfolgreichen Anwalts James O’Brien, änderte seinen Namen später in Fitz-James, was „Sohn des“ bedeutet.

Man kann nur mutmaßen, was der frühe Tod des Vaters für den Jugendlichen bedeutet haben mag, der nach seinem Studium am Trinity College Dublin mit einem recht üppigen Erbe von 8000 Pfund ausgestattet nach London übersiedelte, wo er journalistisch arbeitete und das Geld innerhalb von wenigen Jahren durchbrachte. Ob er einen flamboyanten Lebensstil pflegte und gewissermassen die Korken knallen liess?

Eine Passage in der zweiten Erzählung des Bandes lässt darauf schließen, dass ihm solche Lebensart zumindest nicht fremd war: „Neben meinem Bett stand auf einem Boulle-Tischchen eine große Karaffe mit einem schäumenden Champagnercocktail. Ich leerte ihn als Trankopfer für den Morgengott. Es war ein angemessenes Opfer… Die Glut, mit welcher der Cocktail unmittelbar alle Glieder durchdrang, [erinnerte] an den gesunden Kreislauf nach einer Morgengymnastik“.

Der Autor zog nach seiner Londoner Zeit weiter nach New York und stieg ein ins Literaturleben der Bohème. Dort schrieb er für diverse Zeitschriften in Prosa und in Versen. Als früher Sciene-Fiction-Autor mit einer Nähe zu den Gothic Tales, als Surrealist und Phantast könnte man ihn der Einordnung in die Literaturwelt halber als irischen Edgar Allen Poe bezeichnen.

Seine in der liebevoll aufgemachten Nocturnes-Reihe bei Steidl versammelten Erzählungen sind geprägt von Ereignissen der übernatürlichen Sorte, einer klaustrophobischen Atmosphäre, in der Rachegelüste herrschen und Gefangenschaft droht. Beispielsweise durch einen Grafen, der in Anflügen von Allmacht Schriftsteller dazu verdammt, in seinem Hotel zu wohnen (aka sie einsperrt), weil sie seiner Meinung nach vom Pfad der Ehre abgekommen sind. Plagiate und verlogene Romane legt er ihnen zur Last.

O’Brien schildert das so plastisch, dass es eigentlich unmöglich ist, nicht mit hineingezogen zu werden in die Atmosphäre dieses Hotels, das ein verstörendes Eigenleben führt, mit aus Geländerläufen sich windenden Händen, die nach einem greifen, mit Augen und Ohren, die sich rätselhafter Weise an Türen und Wänden zur Bespitzelung der Gäste bereithalten.

„Die Diamantlinse“ ist die berühmteste Kurzgeschichte des Dichters. Sie wirft die Frage auf, wie weit der Mensch gehen darf im Dienste der Wissenschaft und dreht sich dann von einer Wissenschaftsgeschichte in eine Liebesstory von Verehrung, Verzücktheit und Besessenheit ohne Widerhall. Auch dies kann einen Forscher ereilen: die in seinem Metier entdeckte Vollkommenheit lässt sich im Alltag nie mehr wiederfinden. Umso schöner der Moment, da der „öde Schleier der Normalexistenz, der über der Welt lag, sich plötzlich zurückzuziehen und ein Zauberland zu enthüllen [schien]“.

Im Amerikanischen Bürgerkrieg, der 1861 begann, trat O’Brien in die Nordstaatenarmee ein.Während eines Gefechts wurde er schwer verwundet und erlag 1862 seiner Verletzung.

Beate Lemcke (im Februar 2024)

Fitz-James O’Brien, Die Diamantlinse, aus dem Englischen übersetzt von Andreas Nohl, Steidl Verlag, 128 Seiten im Leineneinband, 18 Euro

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