Von dem, was ungesagt bleibt
Maggie O’Farrells hinreißender Roman „Hier muss es sein“
Dieses Buch beginnt rasant. Es könnte ein ruhiger Tag sein mit einer gerollten Zigarette an der Hintertür des in steter Umgestaltung befindlichen Familiensitzes. Doch da regt sich was am Rande des Gartens, ein Fremder, eine Gefahr? Und schon sind wir mittendrin in einem Leben. Im Leben eines Paares. Mit Kindern und Hund. In einem Refugium im abgelegenen Nordwesten Irlands.
Bald darauf wechselt der Schauplatz nach Kalifornien, dann nach New York und wieder nach Donegal.
Dort ankerte dereinst die rastlose eigensinnige Schauspielerin Claudette, um sich dem Zugriff anderer auf ihr Leben und ihre Kunst zu entziehen. Später kam Daniel dazu, ein irischstämmiger Amerikaner (ohne rückwärtsgewandten Irlandfimmel), als es ihn vor zehn Jahren nach gescheiterter Ehe aus Berkeley in einer Art Trauerangelegenheit für ein paar Tage auf die Insel verschlug. Claudette also und Daniel und der Junge Ari aus Claudettes früherer Beziehung mit dem Regisseur Timou.
Manchmal passiert es, dass einem die Liebe einfach so zufliegt. Und dann? Wie hält man sie ohne sie zu erdrücken? Was braucht es, damit sie bleibt. Auch wenn Umstände sich ändern und bei fortschreitender Zeit?
Nach dem greifen, was erreichbar ist
Maggie O’Farrell hat einen fünfhundert Seiten dicken Roman geschrieben, der sich so leicht liest, so schwungvoll und atmosphärisch dicht ist, dass ich ihn bis zum Ende des zweiten Drittels kaum aus den Händen legen wollte. Fortan bewusst langsam las, um die lebensprallen glücklichen und bedauerlichen, fröhlichen und melancholischen Sets nicht verlassen zu müssen.
Passagen von flirrender lichtdurchfluteter Unbeschwertheit folgen beklemmende undurchdringliche. Beim Lesen fühlte ich mich als Teil der Geschichte, mal Voyeur, mal emotional eingebunden, mitfiebernd. Mal in meinem Leben drin, mal außerhalb davon, wie es auch eine der Romanfiguren beschreibt.
O’Farrell erzählt in einzelnen Strängen, die sich den verschiedenen Figuren widmen. Zeitlich springt sie vor und zurück. Wie Haarsträhnen verflechten die Kapitel sich allmählich zu einem Zopf.
Daniel, Linguistikprofessor, reist in einer Familienangelegenheit in seine alte Heimat in den USA. Wo er sich unversehens mit unbeantworteten Fragen aus seiner Vergangenheit und einer möglichen Schuld konfrontiert sieht. All das lässt ihm fortan keine Ruhe und zieht ihm den Boden unter den Füßen weg. Ohne sich zu erklären bleibt Daniel länger als geplant fort von zu Hause bis Claudette die Geduld mit ihm verliert. Das Ignorieren von Bedürfnissen, das Aussitzen von Problemen, das Ausschlagen von Gesprächen, sei es, weil man etwas verbergen will oder einfach aus Bequemlichkeit – das ist Gift für menschliche Beziehungen eigentlich jeder Art.
Wann soll man reden, wann schweigen? Enden Beziehungen vielleicht gar nicht so oft durch das, was man gesagt hat als vielmehr aufgrund dessen, was ungesagt bleibt?
Ist es schon zu spät als Daniel konstatiert: „Wir müssen uns dem widmen, was vor uns liegt, nicht dem, was wir nicht bekommen können oder verloren haben. Wir müssen nach dem greifen, was erreichbar ist, und es festhalten, ganz fest“ ?
Beate Lemcke (März 2024)
Maggie O’Farrell „Hier muss es sein“, übersetzt von Kathrin Razum, Piper Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 544 Seiten, 26 Euro