Nach Hause kommen zu sich selbst

Edna O’Briens Roman „Die kleinen roten Stühle“

Gibt es per se gute Menschen und böse? Oder welche, die beides zu gleichen Teilen in sich tragen? Was macht sie dazu und können sie sich glaubhaft wandeln? Welche Herausforderungen lassen uns wachsen, wann wird es zu viel und bricht den Menschen? Und in welchem Verhältnis stehen Hoffnung und Optimismus – kann man hoffen, auch wenn man nicht mehr optimistisch ist?

Alles Fragen, die sich besonders in Krisenzeiten wie der unseren aufdrängen. Kriege sind näher gerückt, geografisch und gedanklich, durch globale Fluchtbewegungen und eine ausführliche oft augenblickliche Berichterstattung. Kann der Mensch aus Katastrophen lernen, ihre Wiederholung zu vermeiden? Diese Überlegungen schwingen mit in Edna O’Briens Roman „Die kleinen roten Stühle“.

Ein Fremder kommt in einen kleinen irischen Ort, um zu bleiben, und alsgleich sendet der Bischof einen Priester, um dem Neuen auf den Zahn zu fühlen, damit es keine Unruhe oder gar Unziemlichkeiten gibt im Dorf. Schon nach einem Monat eröffnet der Zugezogene seine Praxis für „Ganzheitliches Heilen nach östlicher und westlicher Lehre“, und ein Teil der Dorfgemeinschaft erliegt seinem Charisma. Die Dorfschönheit und Frau des Textilhändlers am Ort, Fidelma, forciert eine Affäre, denn sie will unbedingt schwanger werden.

Das Gift ist in der Welt

Edna O’Brien, die große irische Erzählerin, zeichnet ein entschieden anderes Irland als das vom grünen Glitzer der Fremdenverkehrsamts-Romantik überstäubte. Nichts mehr von wegen Käuze auf dem Land, die in ihrer eigenen Kultur aufgehen, abgeschottet von äußeren Einflüssen sich selbst genügend. Es ist ein Land der Einwanderer, auf der Suche nach Arbeit, Frieden, dem Sinn und sich selbst. Eines, in dem es sich auch untertauchen lässt, und so steuert alles auf eine Katastrophe zu, denn der Fremde hat eine andere Identität als angegeben, er ist die Bestie von Bosnien, Blut klebt an seinen Händen und er gehört vors Haager Tribunal.

Glücklicherweise wird er enttarnt, womit das Schlimmste vorbei sein könnte, „aber das Gift ist in der Welt“. Auf Fidelma wartet die Hölle auf Erden, denn sie hat sich mit ihm eingelassen. Was genau sich dann zuträgt, ist schwer so zu beschreiben, dass es auszuhalten wäre. Wie aber kann man in Sprache kleiden, was nicht in Worte zu fassen ist, was auszusprechen sich verbietet? Wo es doch hieße, den Täter noch einmal zum Zuge kommen zu lassen; wieder könnte er Angst und Schrecken verbreiten und die Saat des Hasses auslegen.

Heimat hat viele Wörter

Aus diesem Dilemma kann uns Kunst helfen, Literatur, die den Schrecken erlebbar macht ohne zu zündeln, deren Poesie die Dimension von Grausamkeit erfahren lässt. Edna O’Brien beherrscht das wie auch die Laien in einer Theateraufführung am Ende des Buchs, wo das Wort Heimat in vielen Sprachen und Wörtern erklingt.

Wir leben in einer Zeit, in der die Welt verbunden ist wie nie und gleichzeitig getrennt. Gezeichnet von Flüchtlingsströmen, an Land Gespülten – Menschen „müde, lechzend nach den kleinen Tälern und Beispielen von Barmherzigkeit“.

Fidelma, aus einem traditionellen Auswandererland, in das nun auch sehr viel eingewandert wird, ist ihrerseits ausgewandert aus ganz eigenen Beweggründen und wohl nur vorübergehend. Alles, was Fidelma will, ist “über Dinge zu plaudern, die nicht wichtig sind“. Nach Hause gehen aber, so sagt sie, könne sie erst, wenn sie zu sich selbst nach Hause kommen könne.

Beate Lemcke

In der Übersetzung durch Kathrin Razum und Nikolaus Stingl erschienen bei Steidl, Paperback 336 Seiten, 18 Euro

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.