Hier hat jeder „lebenslänglich“
Ein Roman aus Belfast, zärtlich und bitter
Was können uns Pommes über den Zustand einer Gesellschaft erzählen? Michael Magee zeigt, wie sich zumindest ein Milieu vortrefflich mit den Fritten zeichnen lässt. Irgendwo am Ende seines Romans „Close to Home“, den der Nordire für seinen Abschluss an der Queens University Belfast schrieb, gibt es diese Szene: Ein sonniger Tag, alle sind in ihren Gärten (wobei man sich eher kleine Buchten vorzustellen hat). Statt zu kochen schicken die Eltern ihre Kinder Fish & Chips holen, die diese wie üblich aus dem Papier essen. Sie bewerfen sich mit den Kartoffelteilen, sammeln sie wieder ein, bekreuzigen sich damit. Bis eine Mutter ihren Sohn am Schlafittchen packt, ihm die dreckigen Pommes aus der Hand schlägt und ihn ins Haus zerrt, das er später mit tränenglänzendem Gesicht wieder verlassen darf, aber nur bis ans Garten-Ende.
In dieser Episode steckt vieles, was Belfaster Viertel ausmacht. Wenn hier schonmal die Sonne scheint, sind alle draußen als ersetze es einen Sommer am Strand. Das Essen soll vor allem satt machen, die Kids sind so richtige Bengel und die Erziehungmethoden durchaus liebevoll, aber nicht an Ratgebern orientiert. Magee fängt den Sound von Belfast authentisch ein, legt seinen Figuren die richtigen Worte und Sprüche in den Mund und man ist sofort mittendrin.
Was mit dem Leben anfangen?
Erzählt wird die Geschichte von Sean Maguire. Kein übler Bursche ist er, gut durch die Schulzeit gekommen, danach hat er studiert. Aber nun muss er auf die Polizeiwache, weil er einen Menschen zusammengeschlagen hat. Eine bestürzende Tat. Als er sich vor Gericht dafür verantworten muss merkt er, dass man ihn dort als jemanden anderes sieht als er sich selber. Sean kommt mit einer Geldstrafe und Sozialstunden davon, die er abarbeitet auf einem Friedhof, in einer Kirche, im Wohltätigkeitsladen.
Diese Zeit und die Begegnung mit den Leuten dort, lassen ihn über sein Leben nachdenken. In letzter Zeit hatte er für einen Club gearbeitet, dort die Lieferungen ausgepackt. War es das, was er mit seinem Leben anfangen wollte?
Und sein Bruder, von einer Missbrauchsgeschichte gezeichnet, mit Drogen, Partys und hochfliegenden Zukunftsplänen beschäftigt – kennt er den eigentlich? Was hat sie beide und ihre Freunde gemacht zu dem, was sie sind? Immer pleite hangeln sie sich von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Sie feiern und stürzen ab. Beschliessen wegzukommen von Alkohol und Koks, und dann lockt die Versuchung, sich einfach mal abzuschiessen: ach, was soll’s, was hat man schon zu verlieren.
Gift für den sozialen Frieden
Sean und seine Kumpels sind Kinder ihrer Gesellschaft, ihrer Viertel, ihrer sozialen Verhältnisse. Dort zu bleiben, wo sie sind, ist nicht mit „ein Leben lang“ zu beschreiben, sondern mit „lebenslänglich“.
Sie sind die zweite und dritte Generation nach der Hochphase des Nordirlandkonflikts. Der die Gesellschaft gespalten zurückliess bis heute – ein Republikaner würde kaum in ein protestantisches Viertel ziehen und umgekehrt, es fühlte sich einfach nicht sicher an.
Troubles (Ärger, Unruhe) ist ein unzulässig beschönigendes Wort für das, was ein Krieg war. Einer, der Verletzungen hinterliess, eingebrannt ins kollektive Gedächtnis. Gift für Gemeinschaften, zerstörerisch für Familien, für Stadtgefüge, den sozialen Frieden. Denn was dem Krieg/Bürgerkrieg folgt, ist nicht Frieden, sondern es ist etwas, was über Jahrzehnte, über Generationen nicht überwunden sein wird. Damit weist Magees Roman über die konkrete zeitliche und örtliche Verankerung seiner Geschichte hinaus. Wovon er erzählt, lässt sich auf alle Welt anwenden.
Krieg ist nicht nur, wenn Krieg ist, sondern auch, wenn soziales Ungleichgewicht verfestigt wird, himmelschreiende Ungerechtigkeit herrscht. Keine Chance, der Armut je zu entkommen, keine Jobs, keine Zukunft.
In der Welt des Sean Maguire kann schon in ein anderes Stadtviertel zu ziehen ein Neustart sein, der Beginn eines neuen Lebens.
Beate Lemcke (Dezember 2023)
„Close to Home“, Michael Magee, Übersetzung aus dem Englischen von Hannes Meyer, Eichborn, fester Einband, 345 Seiten, 24 Euro