Soufflé in der Zugluft des Alltags
Claire Keegans Erzählung „Reichlich spät“ bei Steidl
Das Buch duftet nach Papier, Leinen, Kleber und Farbe. Griffig fest und zugleich samtig liegt der Einband in der Hand. Man kommt nicht umhin, die Buchkunst zu preisen, wie der Steidl Verlag sie pflegt.
Gerade erschien mit „Reichlich spät“ eine Erzählung, die locker gesetzt nur 24 Zeilen pro Seite im schmalen Hochformat fasst. Die Lektüre vom ersten bis zum letzten Wort erfordert genau 23mal ein Umblättern. Da erscheint ein Lesebändchen fast schon übertrieben komfortabel. Wüsste man nicht, dass die irische Autorin Claire Keegan klar schreibt ohne Füllmaterial. Es sitzt jeder Satz. Hastiges Lesen wäre Verschwendung.
Es geht um Mann und Frau. Wie so oft. Er macht einen mürrischen Eindruck, sie wirkt aufgeschlossen. Außerdem backt und macht und tut sie zum Wohle beider. Ist sie deshalb ein besserer Mensch als er, dem die Geschirrberge und verursachten Kosten durchs Erbsenzählerhirn gehen?
Die Antwort liegt nahe, aber zu einfach darf man es sich nicht machen. Wenn SIE denn so emanzipiert ist, warum wird von IHM erwartet, den Ring fürs Eheversprechen zu bezahlen und zudem die Kosten fürs Umarbeiten?
Ach, würden sie doch nur miteinander reden, sich austauschen über ihre Erwartungen von Anfang an…!
Von Claire Keegan sind bei Steidl zuletzt der Erzählband „Liebe im hohen Gras“ und „Kleine Dinge wie diese“ erschienen, eine Erzählung, die mit Cilian Murphy in der Hauptrolle das Berlinale-Filmfest 2024 eröffnete. Das Drama um eine Klosterwäscherei, in die junge Frauen und Mädchen bis in die 1980er Jahre gezwungen wurden, erhellte mit grellem Lichtschein eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte Irlands. Auch hier verließ Keegan sich mehr auf die Kraft des Ungesagten denn des Gesagten.
Viel auszudrücken mit wenigen Worten lässt den Lesern Raum, die Geschichte mit eigenen Gedanken aufzufüllen. Im vorliegenden Band sind es die überholten Rollenbilder Mann/Frau.
Wie hat sich das Rollenverständnis verändert? Und rollt da gerade – nachdem es Jahrzehnte lang voranzugehen schien – wieder etwas zurück?
Zwei finden sich und begeben sich in eine Beziehung, die wie ein Soufflé in der Zugluft des Alltags zusammenfällt. An einer Stelle merkt der Mann noch während er spricht, „wie der lange Schatten der Sprache seines Vaters auf sein Leben“ fällt. Aber da sind die Worte schon gesagt.
Etwas sagen, und zwar das richtige, ist genau so wichtig wie Zuhören. Fragen können – nicht auf der Suche nach Streit, sondern nach einer Antwort.
Womöglich muss sich einfach jemand finden, der sich auf der gleichen Wellenlänge, einer ähnlichen Erkenntnisstufe befindet. Jemand, mit dem man reden kann und der auch mit sich reden lässt. Das Buch ist längst ausgelesen da schwirren die Fragen weiter durch den Raum.
Beate Lemcke (April 2024)
Erschienen bei Steidl, übersetzt durch Hans-Christian Oeser, 64 Seiten, Leineneinband, 15 Euro