Jede Spur ist ein Vorspiel
„Ein Geist in der Kehle“ von Doireann Ní Ghríofa, erschienen bei btb
Suchen wir nach großen Namen der Kunstgeschichte oder in der Welthistorie der Literatur, dann finden sich dort fast nur Männer. Obschon es große Köpfe und Geister schon immer unter Frauen gab. Sie wirkten in ihrer Zeit, waren überaus erfolgreich, auch finanziell. Aber die Geschichtsschreibung ignorierte sie. Oder sie veröffentlichten unterm Namen ihrer Ehemänner, weil sich das so ziemte. So gerieten sie der Nachwelt in Vergessenheit. Ein bis heute fortwirkendes Zerrbild erstand.
Wenn also Doireann Ní Ghríofa ihrem Band ein Motto voranstellt und dieses noch ein paarmal wiederholt – „dies ist ein weiblicher Text“ – , dann legt sie den Finger unter anderem in diese Wunde. Ich muß zugeben, dass ich das Motto nicht sofort verstand, aber während des Lesens erkannte ich immer deutlicher, was sie meint. Ist nicht sogar die Jacke ihrer Tochter, die die Großmutter gestrickt hat, „ein weiblicher Text, in dem jede Masche eine Silbe ist“?
Parallelen zum eigenen Dasein
Auch in der Form ist das Buch der irischen Schriftstellerin und Essayistin ungewöhnlich. Wissenschaftliche Recherche, Erzählung, das Ineinander-Weben von Geschehnissen aus verschiedenen Jahrhunderten schärfen Sinne und Verstand, fördern das Verstehen und lassen die Wahrheit immer tiefer einsickern.
Die Lektüre bringt zwei Schriftstellerinnen zueinander: die junge Mutter, die soeben fast ein Kind verloren hätte, im Heute. Und eine Adelige aus dem 18. Jahrhundert, die auch Dichterin ist und durch finstere Ränke ihren geliebten Mann verliert, eine Handvoll seines Blutes trinkt, ein großes Gedicht verfasst und als nationales Mythos in die Geschichte eingeht. Die „Frau von Heute“ spürt dieser Geschichte nach. So entdeckt sie Parallelen zum eigenen Dasein und wächst an der Recherche, die sie beseelt und mitunter geradezu besessen betreibt.
Ein Name ist nie nur Name
Der Sog, der schnell auch die Lesenden erfasst, wird gespeist aus dem Ursprünglichen, Wahrhaftigen, fast Animalischen. Er führt weg von der Oberfläche des Lebens, des Geschäftigen, des Konsums und der Glückssuche in die Tiefe, zum Eigentlichen. Ist dabei ganz banal und dadurch ganz stark. Was leitet uns, was treibt uns an? Was bedeuten Geburt und Tod, was die Existenz?
Eibhlín Dubh ní Chonaill war eine der letzten Edelfrauen des alten irischen Adels. Sie wurde als Mädchen Nelly gerufen. Mit 24 heiratete sie den 21jährigen Art, es war das Jahr 1767. Die Braut wählte ihren eigenen Namen, der Nachname blieb Ní Chonaill. Dubh wird traditionell vom Namen der Mutter auf den der Tochter übertragen. Selbst die Beschäftigung mit oberflächlichen Details bringt – wie sich hier zeigt – wesentliches zum Vorschein. „Ein Name ist hier nie einfach nur ein Name.“
Die Buch-Autorin Doireann Ní Ghríofa las als Schulkind zum ersten Mal ein Gedicht von Eibhlín Dubh ní Chonaill, ein außergewöhnliches, das Klagelied für den Ehemann Art „caoineadh airt uí laoghaire“.
Mit Sorgfalt aufgeschrieben
Gedichte wurden damals vom Taoisigh in Auftrag gegeben. Führer der alten gälischen Ordnung beschäftigten einen Barden (männlich), um eine Person oder ein Ereignis in Versen zu verewigen. Die Gedichte wurden in handgeschriebene Anthologien, sogenannte Duanairí kopiert, gemeinsam mit heiligen Texten. Von Frauen verfasste Literatur wurde indes nicht in Büchern aufbewahrt, sondern in den Frauen selber.
Bei ihrer Recherche gelangt die Autorin zu der Hütte, wo das Caoineadh (das ist der Begriff für eine von Frauen geprägte literarische Gattung) von Eibhlín Dubh zum ersten Mal von der Stimme in Text übersetzt und mit großer Sorgfalt aufgeschrieben wurde.
Also vom Mund zum Ohr aufs Papier, weiter ins Englische. Eibhlín Dubh ist bei der Autorin, „so nah wie Tinte dem Papier und beständig wie ein Puls“. Es sind Instinkte, die sie immer weiter treiben. “Wir können nicht wissen, aus wessen Mund die Echos unserer Leben erklingen werden.“
Am Rand des Lebens von Männern
Die Erzählerin ist beflügelt von den historischen Vorgängen. Sie denkt sich in die Geschichte, lebt sie, ja scheint sie sogar aktiv voranzutreiben. Erzählerisch jedenfalls, wenn sie die Fäden in die Hände nimmt und alles zu Leben erweckt. Gegenwart und Vergangenheit verschwimmen dann.
Die Ich-Erzählerin schlendert durch Türen, die die Dichterin aus dem 18. Jahrhundert ihr öffnet. „Das Lesen sorgt für die seltsame Balance dieser Momente – dazusitzen und wieder etwas von mir herzugeben, fühlt sich angenehm an, wenn ich gleichzeitig wieder ein wenig von ihrem Leben in mich aufnehmen kann.“ Viele Famlienpapiere und Tagebücher werden vernichtet, Frauen verschwinden oder tauchen vielleicht später am Rand des Lebens von Männern auf, sie finden Widerhall in einem anderen Leben.
Die Autorin durchforstet Archive, Friedhofsinschriften, alte Kirchenbücher und erstellt so eine Genealogie der Familie von Eibhlín Dubh. Sie findet nie einfache Antworten, „jede Spur ist ein Vorspiel zu weiteren Fragen“.
Auch da, wo wir leben, jeder einzelne von uns, hat schon einmal jemand gelebt, ist denselben Weg gegangen… eine schöne Vorstellung ist das.
Beate Lemcke
Doireann Ní Ghríofa „Ein Geist in der Kehle“ übersetzt von Cornelius Reiber (Text) und Jens Friebe (Lyrik), erschienen im März 2023 bei btb, gebunden mit Schutzumschlag 24 Euro