Ein tugendhaftes Volk gibt’s nicht

„Tage ohne Ende“ von Sebastian Barry, erschienen bei Steidl

Wer dem Tod wiederholt ins Auge geblickt hat, Blut und abgetrennte Gliedmaßen gesehen, Hunger und Kälte erfahren, dem bleiben Leere und Ernüchterung und der erbitterte Kampf ums nackte Überleben. Oder – wie dem Iren Thomas McNulty – die Liebe. Eine große warme wahre Liebe, die den noch so geschundenen Leib zu durchfluten, die Seele zu erhellen und die Sinne zu beleben vermag. Eine Schönheit in den Dingen, den Jahreszeiten, der Landschaft; eine Liebe für einen Mann und ein adoptiertes Indianermädchen.
Und so kann aus einem Text gleich einem rastlosen Ritt im Fieberwahn, einem Buch über die Schrecken und die Dunkelheit des Krieges, des Brandschatzens und Mordens eine Ode an das Leben werden.

Sebastian Barrys Roman „Tage ohne Ende“ ist eine solche. Und ein hinreißender Beleg, was Sprache vermag, Bilder, Vergleiche, ein Rhythmus. Der reißt einen mit wie auf Sturzfahrt im nußschalengroßen Boot Wasserschnellen hinunter. Man will hindurcheilen, der Handlung folgen und hält doch immer wieder inne, um dem Sprachgesang zu lauschen, sich an einer Formulierung zu ergötzen.

Angesiedelt im entstehenden US-Amerika, in einer Zeit gezeichnet von erbarmungslosen Kämpfen gegen die „Rothäute“ und gegen die Rebellen im amerikanischen Bürgerkrieg, ist das Werk universell in seiner Botschaft, die nicht erhaben daherkommt, sondern als kleine Geschichte eines kleinen Mannes.

Ich-Erzähler Thomas McNulty kann die ganze Lausigkeit des Lebens vergessen machen mit seiner Fähigkeit zu lieben, zu leben und vor allem leben zu lassen. Mensch bleiben, auch wenn die Bestie Krieg wütet, Waffen dich in die Knie zwingen, Hinterhalt und blinder Gehorsam, das Mantra des Auge um Auge, Zahn um Zahn…

McNulty stammt aus Sligo, Irland. Viele der Rekruten, die gegen Rebellen im amerikanischen Bürgerkrieg antreten, sind Iren. Die Kämpfe verwunden, verändern die Menschen, aus Freund wird Feind. Verträge werden besiegelt und gebrochen, denn „so was wie ein tugendhaftes Volk gibt’s nicht“.
Dass unser Held nach seiner Flucht vorm Großen Hunger, der Überfahrt in einem der Coffin ships, einen John Cole traf, mit dem er später in einer Minstrel-Show auftreten wird, führt punktuell zu glücklichen Zeit nach vielem „finsteren Gestrüpp“. „Das Licht war John Cole und die Fülle seiner Herzensgüte.“ Das Leben mit ihm und später mit dem Indianermädchen Winona, das für sie wie ein eigenes Kind ist, fühlt sich an wie „ein kleines Königreich gegen die Finsternis“. Doch nur kurz währen solche friedvollen Tage und dann geht es wieder in den Krieg.
„Manchmal lichtet sich der Nebel gewöhnlicher Gedanken in einer plötzlichen Brise des Sinns, und einen Augenblick lang siehst du die Dinge so klar wie eine aufklarende Landschaft. Wir stolpern durch alles hindurch und nennen es Weisheit, aber das ist es nicht…“
Als McNulty zurückblickt auf fünfzig Lebensjahre und sich fragt, wohin sie entschwunden sind, schwant ihm, was auch seine Leser umtreiben mag: „Im Gedächtnis eines Menschen sind vielleicht nur hundert klare Tage aufbewahrt, dabei hat er Tausende von Tagen gelebt… Wir haben unseren Vorrat an Tagen, und wir vergeuden ihn wie vergessliche Säufer.“

Beate Lemcke

(Steidl Verlag, Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser, 256 Seiten, 22 Euro)

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