Auge um Auge macht die Welt blind

Louise Kennedys Roman „Übertretung“, erschienen bei Steidl

Sie werden misstrauisch beäugt, weil Sie eine andere Hautfarbe haben? Nein, viel zu einfach und alltäglich. Dann vielleicht wegen des Vornamens, der Anhaltspunkte gibt, was Ihre Herkunft, Ihren Stand, die Gesinnung betrifft? Schon möglich, davon hat man gehört. Aber es geht noch perfider. Wenn nämlich beim Buchstabieren Ihres Namens Blicke gewechselt werden. Weil die Katholiken das „h“ wie ein „haitch“ aussprechen und Protestanten wie ein „aitch“.

Wir sind in Nordirland, genauer in Belfast im Jahre 1975 und damit mitten im Bürgerkrieg. Euphemistisch als Troubles, als Sorgen, Ärger, bezeichnet. Feige Morde stehen auf der Tagesordnung und am Ende werden tausende Menschen mit dem Leben bezahlt haben für einen Kampf, der gerne verkürzt als religiöse Auseinandersetzung dargestellt wird. Was er aber nie (nur) ist. Nicht die Missionierung der Andersgläubigen wie in einem Glaubenskrieg ist das Ziel, sondern der Nordirlandkonflikt bezieht seinen Zündstoff aus der Unterdrückung der katholischen Bevölkerung.

Fatale Konsequenzen

Bereits seit 1969 hatten die Unruhen in Nordirland an Fahrt aufgenommen. Es gab Ghettos, Viertel, in denen fast nur Protestanten oder Katholiken lebten. Die britische Armee war bekannt und berüchtigt für ihr hartes Durchgreifen, Verdächtigte durften seit 1971 ohne Anklage verhaftet werden. Die RUC, die Polizeitruppe in Nordirland, rekrutierte sich überwiegend aus dem protestantischen Teil der Bevölkerung und war so aktiver Teil des Konfliktgeschehens, weil sie als verlängerter Arm der unionistischen Sache wirkte. Dieses Fehlen einer neutralen Polizei hatte fatale Konsequenzen. Das blutigste Jahr war das Jahr des Bloody Sunday 1972.

Die IRA erklärte katholische Gebiete zu No-Go-Areas für die britische Armee, die sie dort nicht sehen wollte. Eine 1975 erhandelte Waffenruhe hielt nicht.

Betörende Liebesgeschichte

Von all dem ist im Roman nichts zu lesen. Und doch ist es gegenwärtig, hängt unheilvoll in der Luft, legt sich wie ein Mehltau übers Leben. Die zerstörerische Kraft des Misstrauens durchzieht die Gesellschaft, zersetzt Freundeskreise, reicht bis in die Familien. Verursacht eine Paranoia, die alles auf den Kopf zu stellen vermag.

Der Roman von Louise Kennedy, die mit über fünfzig als Autorin debütierte – vorher hatte sie dreißig Jahre als Köchin in Dublin, Sligo und Beirut mit ganz anderen Zutaten gearbeitet – dieser Roman erzählt eine kraftvolle, eine leidenschaftliche und betörende Liebesgeschichte. Die anderswo und zu anderer Zeit wohl auch eine schwierige gewesen wäre, hier aber mit nicht absehbaren Folgen.

Klarer innerer Kompass

Ausgerechnet in den angesehenen Prozessanwalt Michael Agnew hat sich Cushla Lavery verliebt. Er ist verheiratet. Und auf der anderen Seite. Er gehört zu den Prods, wie man abfällig zu Protestanten sagt, sie zu den Taigs, wie Katholiken genannt werden. Das kann doch nur ein schlimmes Ende nehmen oder etwa nicht?

Michael Agnew, der wesentlich älter ist als Cushla Lavery, ist klug und scheut nicht das vermittelnde Wort, den Blick nach rechts und links. „Ich liebe Irland, ich glaube nur nicht, dass Irland es wert ist, dass man seinetwegen tötet“, sagt er. Als Leserin mochte ich ihn sofort und auch Cushla. ER so der Fels in der Brandung, der Mann mit tiefen Einblicken und doch sehr offen, kein politischer Fanatiker. SIE etwas unsicher noch, das aber eher der Jugend und dem alten Rollenbild geschuldet. Sie hat einen klaren inneren Kompass für menschliches Verhalten.

Zusammenleben der Religionsgemeinschaften

Als Lehrerin unterrichtet Cushla unter anderen den siebenjährigen Davy McGeown, dessen Vater auf der Straße fast zu Tode geprügelt wurde. Gründe braucht es dafür nicht, sie sind immer da, denn – wie zu Anfang umrissen – wir sind in Belfast und es ist 1975. Cushla kümmert sich um den Jungen, schaut auch nach dessen 18jährigem Bruder Tommy McGeown und der Mutter Betty.

Man riet ihr davon ab, sich „mit einer Familie von Taugenichtsen“ anzufreunden, wo das Zusammenleben der Religionsgemeinschaften in der Stadt ohnehin heikel war. Auch der Schuldirektor Mr. Bradley, den sie angeprochen hatte, und der dies als Anmaßung empfand. Er nahm Rache an den McGeowns und schwärzte die Mutter an, sie könne nicht für die Kinder sorgen.

So viel Hass lässt einem das Blut in den Adern gefrieren. Aber noch obsiegen die Menschlichkeit und die Liebe – die der Lehrerin zu den Kindern, die Freundschaft eines Kollegen. Louise Kennedy schreibt sehr lebendige glaubwürdige Dialoge, ohne viele Worte ersteht eine Atmosphäre, als säße man daneben, wenn die Kollegen frotzeln, im Pub bierselig geredet wird.

In diesem Höllenloch

Cushlas Bruder Eamonn gehört ein Ausschank, sie hilft dort aus. Das Pub liegt am Stadtrand, betrieben von Katholiken, verkehren hier Protestanten. Die Worte sind zu wägen, ein Funkenschlag reicht, um eine Sache explodieren zu lassen. Leg dich nicht an mit…!

Sie lernt dort den Richter kennen, der sich für die irische Sprache interessiert und sie in seinen Freundeskreis einführt, wo sie Irisch unterrichten wird.

Nichts bleibt ohne Konsequenzen, die Spirale der Unversöhnlichkeit dreht sich: An eye for an eye. Auge um Auge bedeutet hier: Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Es geht nicht um Wiedergutmachung wie im zweiten Buch Mose, sondern um Rachegelüste und blinden Hass. Auge um Auge aber – so sagt man auch – macht die Welt blind.

Victor, ein Freund des Anwalts, bringt es auf den Punkt: „…denken Sie an uns arme Schweine, die wir in diesem Höllenloch festsitzen“.

Beate Lemcke

In der Übersetzung von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser, 320 Seiten, Leineneinband, 25 Euro

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