Wenn sich etwas bewegt, dann ganz langsam

Nicole Flatterys Roman „Nichts Besonderes“ im Hanser Verlag

Sind wir Menschen kraft der Social-Media-Maschine endlich da angekommen, wo Andy Warhol uns schon vor einem halben Jahrhundert sah? Gebauchpinselt von gereckten Daumen und Herzchen für unsere Mitteilsamkeit, die in einschlägige Kanäle fließt? Besessen vom Werben um Follower für Sprüche und Fotos… ? – „In Zukunft wird jeder 15 Minuten lang berühmt sein“, prophezeite der Künstler einst. Was hätte ein Andy Warhol wohl gemacht, wenn es zu seiner Zeit schon die Sozialen Medien gegeben hätte?

Warhol, aufgestiegen aus einfachen Verhältnissen, Werbegrafiker, Filmemacher, Maler, Voyeur und Dandy in New York, war ein Unternehmer mit enormem Ausstoß und unter stetem Produktionsdruck. In seiner Fabrik entstanden u.a. 150 Untergrundfilme, außerdem Werbespots, Videos, das Magazin „Interview“, Tagebücher, Siebdrucke, darunter heute ins ikonografische Gedächtnis der Kunstgeschichte eingeschriebene Porträts. Einerseits war er der coole Popmensch, andererseits müde und von Ängsten geplagt vor Krebs, Tumoren, einer Pleite. Im Sommer 1968 gab bei einem Attentat Valerie Solanis drei Schüsse auf ihn ab, die ihn schwer verletzten, aber nicht töteten.

Die Anziehungskraft der Factory

Warhol hatte Mitte der 60er Jahre angefangen, die endlosen Gespräche seiner Freunde, die sich um ihn scharten und um Aufmerksamkeit buhlten, wahllos auf Tonband aufzuzeichnen. Das ging bis in die 70er Jahre so, manches nutzte er für Dialoge in Drehbüchern. Hauptsächlich aber tat es sich selbst genüge. Täglich kamen viele Besucher in die East 47th Street und an die späteren Adressen, es gab Dinnerpartys und Vernissagen. Überliefert ist Warhols Freude daran, Zwietracht zu säen, die Aufregung galt dabei als eigentliches Ziel. Wie in seinen Tagebüchern schien er bei den Abschriften der Tonbänder nicht zwischen wichtig und belanglos zu unterscheiden.

Die Anziehungskraft der Factory war groß genug, dass sich immer wieder Menschen fanden, die teils sogar ohne Salär die Tipp-Arbeit übernahmen und Telefonate und Gespräche transkribierten. Darunter übrigens auch Moe Tucker, die Drummerin von Velvet Underground. Wiewohl diese sich geweigert haben soll, Schimpfwörter niederzuschreiben, an ihrer statt ließ sie Leerstellen.

Ein eher mäßig aufregendes Leben

Die Rezensentin räumt entschuldigend ein, bislang nichts über das Buch der irischen Autorin Nicole Flattery ausgesagt zu haben. Aber die ließ den Leser auch lange warten, bis sie zu Warhol kam, das muss zunächst als Erklärung reichen. Nach dem Lesen des Romans „Nichts Besonderes“ war sie (also ich) zunächst unschlüssig, ob die Romanstruktur, die rückwärts und dann wieder vorwärts in verschiedene Jahrzehnte versetzt, glücklich gewählt ist. Weshalb die Rezensentin, die ihre Arbeit ernst nimmt, das Buch am Ende gleich nochmal von vorne las. Denn – so viel vorweg: der Band ist lesenswert und zeugt von einer wachen Autorin, die originell zu formulieren versteht und die Stimmung eines eher mäßig aufregenden Lebens adäquat einzufangen weiß.

Ein Leben, das – wie der Titel suggeriert – Nichts Besonderes bietet. Und damit – wie das Vorgängerbuch von Nicole Flattery „Spaß haben“ – unseren Zeitgeist, die Unschlüssigkeit und Leere sehr gut spiegelt. Die Heldin der fiktiven, von der Warhol-Biographie inspirierten Geschichte, heißt Mae. Sie lebt ein Leben ohne Aufregung, und wenn sich etwas bewegt, dann ganz langsam. Durchaus hat Mae Lebens-Träume, aber es rührt sich über die Jahrzehnte wenig Anstrengung, sie zu verwirklichen. Als würde sie nicht leben, sondern gelebt.

Im Keller der eigenen Enttäuschungen

Durch eine zufällige Anregung verlässt Mae mit 17 die Schule und heuert im Schreibbüro eines gewissen Andy Warhol an. Wahrscheinlich die kühnste Entscheidung im Leben der jungen Frau, die sich damit von ihrer Mutter abzugrenzen sucht, über die sie sagt: „… ständig hauste sie im Keller ihrer eigenen Enttäuschungen und blickte kaum jemals auf“.

Besonders beeindruckt sie der Schauspieler Ondine, einer von Warhols Superstars. Sie lernt ihn durchs Abhören kennen und verliebt sich in die Stimme. Ondine gehörte zum Kreis der „Mole People“ um Warhols Factory, jenes Maulwurfsvolk, das sich nur nachts bewegte und das Tageslicht scheute. Mae und ihre Kollegin Shelley, mit der sie sich anfreundet, übernehmen das Projekt der wortwörtlichen Abschrift der Kommunikation zwischen den Schlüsselfiguren Drella (das ist Andy Warhol in einer Namenskombination aus Dracula und Cinderella) und Ondine sowie anderen Personen.

Eine Coming of Age-Story

Maes Obsession für Ondine rührt daher, dass er ihr mutig und egoistisch erscheint. „Von den Tonbändern wusste ich, dass man im Leben nur gewinnen oder verlieren konnte, dass jemand anderes fallen musste, damit man selbst aufsteigen konnte.“ Von Tag zu Tag kann sie sich immer besser konzentrieren, nimmt Geräusche deutlicher wahr, ist voller Hingabe, denn die Tonbänder geben ihr alles, was sie braucht. Die Menschen, deren Beichte sie über die Kopfhörer direkt ins Ohr gesprochen bekommt, hält sie für etwas besonderes, und an manchen Tagen fühlt sie sich wie Gott.

Beim Zuhören erwächst Mae ein Interesse an sich selbst. „Man konnte nicht so viel Zeit mit solchen großen Egos verbringen, ohne selbst eins zu entwickeln.“ Flatterys Roman kann als eine Coming of Age-Story gelten, aber so richtig schlau werde ich aus der Heldin nicht, für ein selbstbestimmtes Leben ist mir da zu viel Stillstand. Oder führt mich die übersteigerte Erwartung an den Sinn der Existenz an der Nase?

Puffer zwischen Mae und der Welt

Die Oberflächlichkeit des mal kurz Berühmtseins der Generation Influencer scheint in der Welt von Mae vorweggenommen, dieses Kannibalisieren und Banalisieren der Realität. Das Alltägliche wird eins zu eins abgebildet. Dialoge mitschreiben, mit der Kamera draufhalten, die Ausbeutung des Alltäglichen – das ganze Leben ist eine große Realityshow. Eine zeitlang halten die Tonbänder als Puffer zwischen Mae und der Welt her. Tag um Tag, Woche um Woche vergeht, es passiert…eigentlich…fast nichts. Die Zeit kriecht dahin. Dennoch legt Flattery ihrer Heldin Mae den Rückblick auf ein rasantes Abenteuer in den Mund: „Wir hatten uns durch diese zwei Jahrzehnte gestürzt wie aus dem Fenster eine Hochhauses“.

Es gibt wenig Entwicklung für so eine lange Zeit, am Ende scheint Mae tatsächlich so genügsam, wie sie es ihrer Mutter vorwarf, diese lebte in einer Wohnung ohne Charakter und „Möglichkeiten interessierten sie nicht“.

Beate Lemcke

Aus dem Englischen von Tanja Handels, Hanser Berlin, fester Einband, 267 Seiten, 24 Euro

 

 

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