Herab vom hohen Haufen ihrer Jahre

Kevin Barrys Roman „Nachtfähre nach Tanger“ bei Rowohlt

Im Oktober 2018 sitzen in der spanischen Hafenstadt Algeciras zwei Männer Anfang fünfzig im Fähr-Terminal. Ein Ort, den man sogleich vorm inneren Auge hat: Irgendwie düster, aber auch grell, miefig von Schweiß und Müdigkeit. Ermattend zähflüssig und immer wieder aufgestört durch die hektische Amplitude von Kommen und Gehen. Auf jeden Fall kein Ort, an dem man sich gerne über Stunden aufhält. Es sei denn, man hat da etwas zu suchen. Oder jemanden.

Kevin Barrys Roman „Nachtfähre nach Tanger“ schlägt die Töne eines Roadmovies an, nur dass dieses auf der Stelle tritt. Die Männer hängen im Terminal fest wie Fliegen auf einer Klebefalle. Ihre Gedanken lassen sie in die Vergangenheit reisen. In Leben voller Geschichten; wahrer und phantasierter, ausgemalter, angedeuteter, verschwiegener. All das hängt wie eine schwere Schwade im Raum. Im Terminal von Algeciras, wo die Fähren aus Tanger einlaufen und wieder ablegen.

Dem Tag den Schmutz entziehen

Die Männer sind Maurice Hearne und Charlie Redmond aus dem irischen Süden, und sie haben ein paar Flyer drucken lassen, auf denen sie nach einem Mädchen suchen, Dilly Hearne, 23 Jahre alt, wahrscheinlich mit Dreadlocks, vielleicht mit Hund. Maurice, der Vater, hat sie seit drei Jahren nicht gesehen. Ob sie sie finden, soll hier nicht verraten werden. Ohnehin wird dem Leser rasch offenbar, dass diese Typen mehr als alles andere sich selber suchen. Ihre Vergangenheit und das, was sie zu dem gemacht hat, was sie heute sind.

Mit Drogengeschäften war viele Jahre lang viel Geld zu machen, sehr viel. Den verlebten Gestalten ist anzumerken, dass sie kaum einer Versuchung widerstanden. Geld, Frauen und der Konsum von Substanzen, die geeignet schienen, so manchem Tag „den Schmutz (zu) entziehen“. Kevin Barry lässt die Männer mit glaubwürdiger Sprache und wunderbaren Bildern „vom hohen Haufen ihrer Jahre“ herabblicken.

Ein Leben angefüllt und hohl

Der Autor, großartig ins Deutsche übersetzt von Thomas Überhoff, vermag eine Atmosphäre zu schaffen, die den Leser reinzieht in den Strudel der Erinnerungen. Immer wieder kehrte beim Lesen mein Blick zurück an Satzanfänge, weil die Worte einfach genial gewählt sind. Zum Beispiel: „Tränensäcke wie Grabhügel unter den Augen“ oder „Ein Espressobrühkopf sprudelt wie Gelächter“. Als Maurice einmal seinen Vater in der Klapse besucht (in der er später auch noch landen wird), schreibt Kevin Barry: „An der Wand hing eine gewaltige Uhr, die gnadenlos jeden Moment verlangsamte“.

Maurice lebte ein Leben angefüllt mit Verbrechen und Exzessen und gleichzeitig hohl, leer. Mal war Geld im Überfluss da, mal keins. Dope verwischte die Grenzen zwischen Zuwendung und Käuflichkeit. Mal hatte er für seine Ehe mit Cynthia gelebt, mal dagegen. Die Erinnerungen umreißen zwanzig Jahre Vernichtungskampf zwischen Maurice und seiner geliebten Frau, Abwesenheiten, Gefühlswallungen, goldene Zeiten morphinen Himmels, Grausamkeit, Versöhnung.

Vom Rand der Erde gefallen

Auch Charlie Redmond hat Cynthia angebetet vom ersten Augenblick an, „Als sie ihm ein schiefes Lächeln schenkte, fiel er vom Rand der Erde“. Eben dies eint die Männer, sie wollen sich spüren und gehen dafür an die Grenzen. Zu oft im Leben war ihr Reden ein Schutzschild gegen Gefühle. Und doch ist es durchgedrungen, das eine wahre, wichtige Gefühl: LIEBE. Wenn auch am Ende gewandelt zur tiefsten aller Erfahrungen, nämlich einem gebrochenen Herzen.

Beate Lemcke (Juni 2022)

Kevin Barry, Nachtfähre nach Tanger, übersetzt von Thomas Überhoff, Rowohlt Verlag, 208 Seiten, gebundene Ausgabe 22 Euro

 

 

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