Und dann brennen die Palmen

„Liebe im hohen Gras“, gesammelte Erzählungen von Claire Keegan

Ein medienkulturelles Phänomen des letzten Jahrzehnts ist das (teils exzessive) Verschlingen von Serien auf Netflix und anderen Plattformen. Figuren und Handlungsstränge, so wird von Serienfans gerne angeführt, hätten da viel mehr Raum sich zu entwickeln als im Spielfilm von klassischen 90 Minuten.
Trotzdem verteidigt der Spielfilm seinen Platz, wie auch der Roman nicht per se die Erzählung aussticht. Man kann Äpfel nun mal nicht mit Birnen vergleichen. Wer Claire Keegan gelesen hat, wird die Erzählung wohl nie wieder geringschätzen. Wie sie auf wenigen Seiten Charaktere zeichnet und Menschen miteinander in Beziehung setzt, Stimmungen aufbaut und das Lesen zum Wechselbad der Gefühle werden lässt – das ist meisterlich.

„Liebe im hohen Gras“ versammelt 23 Erzählungen, in denen u.a. die Liebe – die gelebte, die enttäuschte oder die Suche nach ihr – Raum bekommt, ob Keegan nun vom Fremdgehen erzählt, eine Dreiecksgeschichte ausmalt oder ein Blinddate. Inspiriert von einem Zeitungsartikel spürt sie geheimnisvollen Morden nach oder sie spielt auf eine Tradition des irischen fahrenden Volkes, der Tinker, an. Dem irischen Romanautor John McGahern entlehnte sie ein Motiv für eine andere Geschichte.

Sich glücklich fühlen bis…

Die zwei längsten Erzählungen bringen es auf vierzig Seiten. Viele aber sind weniger als zehn Seiten lang, und sie reißen einen in Ströme von Mitfühlen und Parteinahme, von Abscheu und Entsetzen. Da scheint es angebracht, nach jeder Erzählung zu verweilen, um das Gelesene weiter klingen zu lassen, oder mitten im Absatz innezuhalten und Formulierungen nachzuschmecken. So, wenn jemand in alten Büchern und Karten blättert, und Keegan lakonisch formuliert: „Auf Norwegen klebt ein Insektenflügel“. Oder wenn über eine Frau zu lesen ist, sie „fühlte sich glücklich, bis sie merkte, dass sie es nicht war.“ Oder über einen Mann „Er hatte das Gefühl, dass das Leben ihn in die Enge trieb.“

Die Demütigung lässt nicht auf sich warten

Eine Familie macht sich an Weihnachten fein zum Ausgehen. Das Fest war nicht gerade harmonisch gelaufen und nun geht es nach draußen, wo es kalt ist und noch kälter wird zwischen Vater und Mutter. Es glimmt Hoffnung, Tanz und Tombola locken. Der Vater wird plötzlich lebensfroh und tanzgeschmeidig. Die Mutter sehnt sich danach, einmal eine Verlosung zu gewinnen. Doch die Demütigung lässt nicht auf sich warten. Fragt sich nur, wer am Ende am meisten verliert.
Die „Nacht der Quickenbäume“ ist voll irischer Mythologie. Da wird das Fußwasser zum rituellen Stoff, ein Frosch landet (ohne verletzt zu werden) im Mund gegen Zahnweh.

Das Recht auf ein bisschen Schönheit

Eindringlich auch die Erzählung von der Großmutter, die mit ihren achtzig Jahren partout in ihrem heruntergekommenen Cottage wohnen bleiben will. Keine Chance für die Verwaltung, als die sie zum Umzug in ein kleines Häuschen mit Badezimmer und elektrischem Strom überreden will. Ungerührt zieht der Grafschaftsrat daraufhin eine Betonmauer hoch zwischen Cottage und Straße, auf dass das Häuschen im Schatten stehe und niemand mehr hinein- oder herausschauen könne. Im düsteren Cottage lässt die Alte farbig und bildgewaltig tapezieren für ihr Recht auf ein bisschen Schönheit. Der ersten schiefen Bahn mit aufgedruckten Palmen folgen weitere, es sieht am Ende aus, als hätte ein Sturm die Gewächse in Schieflage gedrückt. Das Bild brennt sich wahrlich ein wie auch die Lösung des Dilemmas; bevor die Alte weiterzieht, mit dem Enkel.

Wozu Menschen in der Lage sind

Die traurigste Geschichte ist wohl „Das Abschiedsgeschenk“. Sie handelt von Missbrauch, körperlichem und seelischem. Es schnürt einem die Kehle zu, wozu Menschen in der Lage sind. Unübertrefflich an Verderbtheit und dem Ausnutzen von Macht wie im Sich-Darüber-Hinweg-Lügen. Im Stillen indes keimen auch Liebe und das Einstehen füreinander – mithin Hoffnung. Das Brachiale dieser Widersprüche – es geht einem nicht mehr aus dem Kopf, nie wieder.

Beate Lemcke
Claire Keegan, Liebe im hohen Gras, aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser und Inge Leipold, erschienen bei Steidl in der Reihe Steidl Pocket, 357 Seiten, kartoniert, 19,80 Euro

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