Der Glaube an das Unglaubliche

„Dracula“ von Bram Stoker in einer Neuübersetzung

Obwohl mich alles, was aus irischer Feder stammt und zwischen zwei Buchdeckeln Platz gefunden hat, per se interessiert – zu Dracula zu greifen, danach stand mir nie der Sinn. Mit den Fernsehgruselnissen der Kindheit und den begleitenden Schulhof-Scherzen mit langzahnigen Plastegebissen war das Thema irgendwie abgehakt.

Aber es musste ja – außer dem 100. Todestag von Bram Stoker im April 2022 – einen Grund für die Neuübersetzung gegeben haben. Und irrlichterten Interpretationen der Pandemie in den vergangenen zwei Jahren nicht zuweilen durch Phantasiereiche? Trugen nicht auch sie irreale Züge mit ihrem Wechselspiel von Wissenschaft und Mutmaßung, faktenbasiertem Handeln und unterstellter Hysterie? Eine bessere Zeit als jetzt konnte es für die Dracula-Lektüre nicht geben.

Der Vampirroman ein Weltklassiker

Bram Stoker, geboren 1847 in Clontarf bei Dublin, schrieb sechs Jahre lang an diesem Roman. Anders als seine weiteren Bücher, die im Trivialgenre versandeten, wurde der Vampirroman ein Weltklassiker. Dracula, die Titelfigur, verkörpert das endemische Böse und hat ihr historisches Vorbild im rumänischen Fürsten Vlad III, der wohl von 1431 bis 1476/77 lebte.

Den Charakteren eine zeitgemäße Sprache zu geben, war das eine für Übersetzer Andreas Nohl. Mehr noch galt es Fehler in der Reihenfolge der Puzzleteile zu tilgen, aus denen sich der Roman zusammensetzt: Briefe, Tagebucheintragungen, Telegramme, ein Logbuch. Und es war beim Original die teilweise schwächelnde Figurenzeichnung durch Sprache bemängelt worden. Dazu kann ich hier nichts schreiben, da ich weder das Original gelesen habe noch bisherige Übersetzungen. Bei einem Mal Dracula-Lektüre wird es bleiben. Aber es hat Spaß gemacht und mir in manchen Momenten durchaus Schauer über den Rücken gejagt, was ja das Ziel ist in diesem Genre.

Eine Kette des Verderbens

Von London aus reist Jonathan Harker in einer Immobilienangelegenheit zum Grafen Dracula nach Transsilvanien. Zur gleichen Zeit bemüht sich in England ein Dr. Seward um die Freundin von Harkers zukünftiger Ehefrau Mina. Hier Kidnapping, da mysteriöses Unwohlsein. Eine Kette des Verderbens zieht sich immer enger zusammen.

Zurück in England bei Mina sieht Jonathan einen düsteren Fremden, in dem er den Grafen wiederzuerkennen glaubt, der ihm Leid zugefügt hat und die Reise zu einem Alptraum werden ließ. Dr. Seward, Direktor einer Irrenanstalt, und der Universalgelehrte Van Helsing nehmen den Kampf auf, der auch ein Widerstreit von Wissenschaft und Mystik ist. Van Helsings Bestreben ist, Dr. Seward davon abzuhalten, dass eine vorgefasste Überzeugung seine Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber irgendeinem Phänomen beeinträchtigt.

Leicht geschürtes Misstrauen

Wir Menschen sind einfach so gestrickt: stets suchen wir rationale Erklärungen für mysteriöse Dinge. Im Roman wird der Leser Zeuge, wie schnell sich Misstrauen schüren lässt selbst unter Berufskollegen, Wissenschaftlern, Gleichgesinnten.

„Es gibt Geheimnissse“, stellt Van Helsing fest, „die wir Menschen nur erahnen können, die in jedem Zeitalter nur zum Teil gelöst werden“. Gibt es den Vampir wirklich und bedroht er die Zivilisation oder ist er eine Chimäre, geboren aus Hysterie und Wahn?

Der Glaube an das Unglaubliche ist die Basis für den Kampf und letztlich den Sieg gegen das Böse.

Beate Lemcke (Juni 2022)

Bram Stoker: Dracula. Herausgegeben, neuübersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Andreas Nohl. Steidl Verlag 2022. 540 Seiten. 28 Euro

 

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