Schwindlig vor Unentschiedenheit

Long Island“ von Colm Tóibín, erschienen bei Hanser

Sollten Sie daheim einen Bücherstapel haben, der auf Abbau wartet, muss ich Sie warnen. Denn nach diesem Roman können Sie womöglich erst einmal gar nichts mehr lesen. Es ist wie bei einer ausgezeichneten Speise, deren Geschmack man nicht sofort mit etwas Banalem löschen will.

An der Story als solcher liegt es nicht unbedingt, die ist relativ einfach gelagert und absehbar im Hergang. Aber W I E sie erzählt wird! (Vergessen Sie den Einband, er wird dem Roman nicht gerecht.)

Colm Tóibín kehrt in „Long Island“ zurück zu Eilis, die vor mehr als zwei Jahrzehnten im Mittelpunkt seines Romans „Brooklyn“ stand. Nunmehr lebt die Irin in einer italo-amerikanischen Familie in New York. Mit ihrem Mann Tony hat sie zwei Kinder großgezogen. Tonys Eltern, zwei seiner Brüder und deren Frauen wohnen gleich nebenan. Da gibt es wenig, was unbeobachtet und unkommentiert bleibt.

Rückkehr Knall auf Fall

Dass diese Familienbande stark sind, führt Eilis nur umso mehr ihre Entwurzelung vor Augen. Sie war kein Kind mehr, als sie Irland verließ, sondern Anfang zwanzig. Selten kommt man unter solchen Umständen ganz im „neuen Leben“ an. Die Familie und die vertraute Umgebung, die Geschichte und Kultur zu verlassen und an einen anderen Ort zu gehen, macht etwas mit einem Menschen. Auch wenn er seinem Herzen folgt. Bei Eilis schlug es für Tony.

Zu ihm kehrte sie auch zurück als sie nach dem Tod ihrer Schwester für einige Wochen nach Irland gereist war. Da lebte sie schon zwei Jahre in Amerika. Die Rückkehr erfolgte Knall auf Fall. „Dass sie in diesem Sommer in Irland gewesen war, wurde einfach nie wieder erwähnt. Und das hatte ihr Zusammenleben leicht gemacht.“

Nun also, nach 25 Jahren, steht wieder eine Reise nach Irland an, Anlass ist der 80. Geburtstag der Mutter von Eilis. Die Ehe-Idylle in Long Island, wenn es denn eine war, hat heftige Kratzer bekommen. Denn Tony hat ein außereheliches Kind gezeugt, und es ist möglich, dass es unter ihrem Dach aufwachsen soll. Was Eilis unter keinen Umständen mitzutragen gewillt ist. So chauffiert Tony denn eine Frau zum Flughafen, der „fast schwindlig vor Unentschiedenheit“ ist. Genügt ihr das Leben, so wie sie es führt, noch? Was ist mit jenem Sommer vor 25 Jahren, da sie in Irland Jim Farrell traf und mit ihm eine Affäre hatte?

Die Wiederbegegnung lässt das Leserherz flattern

Jim ist immer noch Junggeselle, hat aber mittlerweile Pläne mit der verwitweten Nancy. In einer irischen Kleinstadt ist es nicht anders als in der Großfamilie in den Staaten: die Wände haben Ohren und Augen. Das dramatische Liebesdreieck aus Eilis, Jim und Nancy ist für uns Leser nun komplett. Colm Tóibín führt behutsam zur Wiederbegegnung von Eilis und Jim hin und lässt das Leserherz flattern. Wie die Figuren sich einander nähern, sich herantasten, gerade so viel sagen wie nötig, nie zu viel, um nicht etwas zu zerstören, was noch gar nicht gewachsen ist – fesselnder könnte auch ein Krimi nicht sein.

Tóibín verwebt die verschiedenen Blickwinkel aufs Geschehen ineinander. Genau so virtuos geht er mit den Zeitebenen um, die er mal nebeneinander setzt, mal übereinander legt. Jener eine Sommer vor 25 Jahren und der Irlandbesuch jetzt korrespondieren und halten in Atem.

Soll Jim Eilis von der Verlobung mit Nancy erzählen? „Er wußte, was er tun sollte, aber er wollte dass das hier weiterging, was immer es war.“ Beim Lesen fühlt man das Zögern und die Hilflosigkeit, glaubt den Figuren ihr Überwältigtsein von Gefühlen und ihre temporäre Unfähigkeit, diese zu ordnen. Als Pubbesitzer, das leuchtet ein, versteht Jim etwas von Menschen, von Gästen, die nach Hause gehen sollten, statt noch etwas zu bestellen, die „sich widersinnig verhielten und sich gegen jedes vernünftige Argument sperrten“. Um so krasser wirkt nun sein Wankelmut. Den aktuellen Stand der drei Figuren im Beziehungsgeflecht kennt nur der Leser, als stiller Komplize. Er würde Antworten einfordern, wo Eilis und Jim schweigen, denn eine „direkte Frage nach konkreten Plänen zu stellen hätte die Unbefangenheit zwischen ihnen zunichte gemacht“.

Gibt es eine zweite Chance?

Mir kam der landläufig gebräuchliche Spruch in den Sinn vom Festhalten und Weitersuchen. Eine böse, fast schon niederträchtige Einstellung eigentlich. Aber das ist es hier nicht. Die Fragen stellen sich anders. Gibt es sie, die große Liebe? Gibt es eine zweite Chance, wenn man sie beim ersten Mal verpasst? Oder wenn man die erste verliert durch äußere Umstände – wie wahrscheinlich ist es, eine zweite geboten zu bekommen?

Wie sehr ist man mit jedem neuen Lebensjahr in seine Lebenszusammenhänge verstrickt? Ist man mitten im Leben noch so offen für etwas neues? Hat man nicht viel zu verlieren? Wie frei kann man entscheiden? Damit weist das Buch über diese eine Geschichte hinaus.

Der Autor wertet nicht, er verurteilt nicht, und so ist man selber auch hin- und hergerissen, eigentlich wünscht man allen dreien das Glück, das sie suchen. Der Leser eilt den Figuren voraus und wird zum Showdown geführt, Satz um Satz zieht Tóibín tiefer hinein in deren Gedanken- und Gefühlswelt. – Meisterlich!

Beate Lemcke im Juli 2024

320 Seiten, Hanser Verlag, aus dem Englischen von Ditte Bandini und Giovanni Bandini, 26 Euro

 

 

 

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