Ein „beschädigtes“ Kind

Liz Nugents neuer Roman ist eine Herausforderung

Selten hat mich ein Buch so ratlos zurückgelassen. Dabeigehalten hat mich die Titel gebende seltsame Sally Diamond. Ihr unverbildeter schrulliger Charakter, ungelenk und vereinnahmend in einer puren direkten Art.

Doch prägen den Roman noch zwei andere Figuren. Mit Szenen von unerträglicher Brutalität und erschreckender Empathielosigkeit. Dass ein Kind, ein wirklich noch kleines Kind, gewalttätig wird, nur weil man ihm sagt: „Schlag ruhig zu“ – das ging mir nicht in den Kopf, sondern nur unter die Haut.

Hätte ich das Buch nach dem ersten Drittel aus der Hand gelegt, hätte ich einen Roman verpasst, der in Irland als Crime Novel of the Year bei den Irish Book Awards 2023 reüssierte und gerade für den Novel of the Year Award 2024 Theakston Old Peculier Crime aufgestellt ist. Aber solche Kategorien und erst recht Bestseller-Aufkleber müssen für das eigene Lese-Erlebnis nichts bedeuten.

Nach „Die Sünden meiner Väter“ und vor allem „Auf der Lauer liegen“ war ich gespannt auf Liz Nugents neuen Roman. Bei letzterem war es mir oft kalt den Rücken runter gelaufen. Ich kann noch immer den Moment aufrufen, da mir der Atem stockte und als er wieder floss ein lautes „Nein, nein, nicht das noch“ darum flehte, den bösartigen Gang der Dinge aufzuhalten. So soll es sein mit einem Krimi.

„Seltsame Sally Diamond“ blättert eine Geschichte auf mit immer wieder neuen Wendungen und unerwarteten Verbindungen. Die Titelfigur Sally ist anders als andere Frauen ihres Alters. Dies beruht auf einem Trauma vor ihrem siebenten Lebensjahr, an das sie keine Erinnerung hat. Ihr Adoptivvater, ein Psychiater, suchte zeitlebens, sie auf den „richtigen“ Weg zu bringen. Als er mit 82 Jahren stirbt und der 42Jährigen noch zuraunt, sie möge ihn mit dem Müll entsorgen, kommt die Geschichte ins Rollen. Sally, die sich selber als „sozial defizitär“ bezeichnet und von der viele glauben, sie sei gehörlos, nimmt das wörtlich: Sie äschert ihn ein.

Plötzlich interessieren sich die Polizei und die Leute im Dorf für sie.

Wenn Sally sich zu sehr aufregt, zieht sie sich an den Haaren, um ruhig zu werden. Ich erwähnte schon ihre entwaffnende Geradlinigkeit und ihr schroffes und so gar nicht anmutiges Wesen.

Vor der Adoption hieß Sally Mary Norton, die Umstände werden beim Lesen Stück für Stück offenbar. Sie ist ein „beschädigtes“ Kind als sie und ihre leibliche Mutter aus den Fängen eines Kidnappers befreit werden.

Leider ist es so, dass im wahren Leben viele Täter ungestraft davonkommen. Aber braucht es in der Literatur die komplette Abwesenheit von Moral, Unrechtsbewusstsein und Hoffnung?

Nugent schildert die seelische und emotionale Verwahrlosung, Manipulation und körperliche Gewalt derart erbarmungslos und erschütternd, dass ich vermied, abends noch ein paar Seiten zu lesen. Als anfangs von einem Geist die Rede war, hoffte ich im Stillen, es gebe ihn wirklich, einen Geist, eine Auflösung im Sinne einer phantasierten Geschichte, eines Gleichnisses, aber so war es nicht.

Die Schmerzgrenze mag bei jedem anders sein, aber mich stießen Niedertracht, Frauenverachtung und Soziopathie einfach nur noch ab. Die Konstellationen im Roman waren mir zu konstruiert auf den Effekt beim Leser hin.

Pädophilie ist eine Neigung, über deren Entstehung die Forschung noch uneins ist. Sie ist nicht heilbar und wahrscheinlich gibt es eine genetische Disposition. Wohl deshalb ließ die Autorin die Täter so agieren. Ein Sohn, der im Kindesalter das Gewalttätige vom Vater übernimmt, auf einen Menschen eintritt, anderen seine Hilfe versagt? Ganz beiläufig als ginge es hier um kindlichen Forscherdrang vergleichbar dem, wenn Kinder einer Fliege die Beine ausreißen.

Immerhin – das Kind, der Jugendliche, liest, sieht Filme. Wo bleiben Spuren im sozialen Verhalten?

Vermochten mich die am Anfang genannten Romane von Liz Nugent zu fesseln, so lässt dieser mich am Ende kalt, weil ich ihn als zu ausgedacht empfinde. Selbst das, was eine gute Wendung genommen hatte, endet trostlos, und die Gewaltspirale dreht sich immer weiter.

Beate Lemcke (Juni 2024)

Liz Nugent „Seltsame Sally Diamond“, Steidl Verlag, übersetzt durch Kathrin Razum, Leineneinband, 336 Seiten, 26 Euro

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