Gestürzte Barrieren, aber nichts tragfähiges Neues

Sally Rooneys Roman „Schöne Welt, wo bist du“, erschienen bei claassen

Ein gewisser Widerwille bäumte sich auf gegen das Weiterlesen – was für eine abstoßende Welt wurde da beschrieben? Was für eindimensionale Charaktere, immer mit dem Finger auf dem Handydisplay, ständig Social-Media-Kanäle überprüfend und auf den neuesten Stand bringend. Diese weltentrückten Millennials mit den eingestöpselten Kopfhörern, die gesundes Zeug aus Frischhaltefolie essen. Ziemlich abstoßend!

Gleichzeitig dämmerte mir freilich, dass dies genau die Welt ist, in der wir leben, und die bereits mehr von dieser Generation als von der mittleren Alters geprägt wird. Mit diesem Eingeständnis und meiner persönlichen Regel, jedem Buch mindestens 35 Seiten zu geben, las ich weiter. Und dann fesselte es mich.

Das Dilemma ist nachvollziehbar

Denn Eileen, eine der vier Hauptfiguren, fragte alsbald entwaffnend unschuldig „muss ich eines Tages in der echten Welt leben?“ Das Dilemma ist nachvollziehbar. Es spiegelt die Verlorenheit und Unsicherheit einer ganzen Generation. Wie Mehltau hat es sich auch über ältere Semester gelegt, die des Kämpfens um das tägliche Schneller-Höher-Weiter müde sind. Desillusioniert über die Möglichkeiten des Aufstiegs, der Gerechtigkeit und sozialen Absicherung.

Eileens Freundin Alice, Autorin, machte sich derweil sich Gedanken über die Schriftstellergilde und den Mangel an Authentizität in ihren Werken. Oder über Sex und warum so wenig darüber gesprochen und geforscht wird, wo doch so viele Menschen bereit sind, ihr Leben dafür zu ruinieren.

Ratlos, was das Leben betrifft

Die langjährigen Freundinnen Eileen und Alice haben sich seit Ewigkeiten nicht gesehen, gerade entspinnt sich bei beiden eine Beziehung, bei Eileen die alte neu erwachende zum vergrübelten Simon, bei Alice zum forschen, etwas rüpelhaften Felix.

Alle eint, dass sie ratlos wirken, was das Leben betrifft. Die Generation vor ihnen hat Barrieren gestürzt, das alte Rollen- und Familienmodell aber durch nichts tragfähiges Neues ersetzt. Wie also soll man nun seinen Platz finden, wie sich verhalten?

Leider bleibt die Zeichnung der Frauen durch die Autorin Rooney ein bißchen wie die von Zeugen hinter einer Schattenwand, sie erstehen nicht wirklich vorm inneren Auge – aber durch das Stilmittel der Mails, mittels derer sie sich austauschen, führt sie geschickt die Ebene der Reflexion über Themen des Lebens ein. Fragen der Ästhetik, der Moral und der Lebensentwürfe werden verhandelt.

Das las sich durchaus mit Gewinn, aber es hat dann doch noch viele Buchseiten gebraucht, bis ich das erste Mal wirklich berührt wurde und die Figuren nicht mehr nur essayistische Gedanken präsentierten, sondern Menschen aus Fleisch und Blut wurden und berührten. Wo ich nicht versucht war, zurückzublättern, um sicherzugehen, dass gerade nicht Elaine, sondern Alice ihre Gedanken ausbreitete und nicht umgekehrt. Ach ja, und da waren doch noch die zwei Männer, Felix und Simon, über die eher wenig zu erfahren ist.

Ein Religionsersatz

Viele der ausgebreiteten Gedanken und Theorien fesselten. Dass der Celebrity-Kult heutzutage als eine Art Religionsersatz scheint – ja, da ist etwas dran. Oder wie mit der Einführung von Plastikprodukten in großem Maßstab die Ästhetik vor die Hunde ging. Elaine: „Autos sind hässlich, Gebäude sind hässlich, massenproduzierte Wegwerfgüter sind unsagbar hässlich. Die Luft, die wir atmen ist giftig…Die Qualität unseres Lebens nimmt ab und damit einhergehend die Qualität der uns zugänglichen ästhetischen Erfahrung.“

Ein Paukenschlag war die Mitteilung der Autorin im Herbst 2021, dieses Buch im Hebräischen nicht vom selben israelischen Verlag wie frühere Werke produzieren lassen zu wollen. Rooney ist Mitunterzeichnerin von „A Letter against Apartheid“, einer Aktion von internationalen Künstlern, die in der aktuellen Situation in Israel keinen Konflikt, sondern vielmehr Apartheid sehen. Mitunterzeichner sind Nan Goldin, Kara Walker, Colum McCann. Auch wenn Rooney einräumte, nicht die israelischen Leser ausschließen, sondern durchaus im Hebräischen verlegt werden zu wollen, von einem BDM-konformen Verlag… – es läuft auf einen kulturellen Boykott hinaus, und das ist eine Katastrophe in dieser zunehmend von Unversöhnlichkeiten geprägten Welt.

Beate Lemcke

aus dem Englischen von Zoe Beck, Hardcover mit Schutzumschlag, 352 Seiten, 20 Euro

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