Der Herbst lässt nicht nur Gräser welken
Sebastian Barrys früher Roman „Annie Dunne“, erschienen bei Steidl
Die Vorgänge in Kelsha, im irischen County Wicklow, zeigen Parallelen zu einem aufziehenden Unwetter. Noch ist es windstill zum Morgenerwachen, gleichförmig mit lieblichen Einlassungen. Dann ziehen Wolken auf und leichte Böen zupfen an der Ordnung des Tages. Gerade ist man im Begriff, den Kragen hochzuschlagen, da hat sich alles in Wohlgefallen aufgelöst. Doch wetterwendisch kehrt die Unrast zurück. Lauer Wind wächst an zum Sturm, begleitet von Donnergrollen. Es baut sich etwas auf, das alles mit sich reißen könnte in einem Strudel des Untergangs…
Kevin Barry (geboren 1955 in Dublin) erweist sich in seinem vor fast zwanzig Jahren erschienenen Roman „Annie Dunne“ bereits als der Poet und Sprachkünstler, der ihn heute zu den besten irischen Autoren der Gegenwart macht. Es bleibt dem Leser nicht lange verborgen, dass die geradlinige, etwas spröde Titelheldin ganz eine Frau ihrer Zeit, ihres Standes und ihres Milieus ist. Mit kleinen Ängsten, kleinen Vorbehalten, kleinen Erwartungen ans Leben, das sie nie auf Großes hoffen ließ.
Die Kinder ihres Neffen Trevor sind angekündigt, den Sommer mit ihr und ihrer Cousine Sarah in Wicklow zu verbringen. Hier hatte Annie Unterschlupf gefunden, nachdem sie – ohne eigene Familie und Besitz, abgesehen von einer Henne, – aus dem Haus ihrer verstorbenen Schwester Maud gedrängt wurde, da deren Ehemann wieder heiraten wollte.
Das Leben so kurz, flüchtig und ohne Belang
Eine wahre Seelenverwandte fand Annie Dunne in dieser Cousine Sarah, zwei Jahre jünger, geboren 1898, und sofort bereit, sie aufzunehmen nach der Malaise in Dublin. Zweifelsohne war das Balsam für die Sorgengeprüfte, die als Folge der Kinderlähmung einen kleinen Buckel mit sich herumträgt. Auch dieser äußerliche Makel ließ sie bescheiden werden, Geschenke des Lebens sind für sie schon eine Tasse Tee oder die Wärme des Bettes.
In Wicklow leben die beiden Frauen mit den Jahreszeiten, spüren ein Aufleben der Kräfte in den lieblichen Juniwochen. Gewahr werdend, wie bald schon wieder der Herbst anklopft, der nicht nur die Gräser welken lässt. Das Leben so kurz, flüchtig und ohne Belang.
Der gleichmäßige Lauf des Lebens wird in jenem Sommer gestört zunächst durch ein unwirsches Pony namens Billy und durch Billy Kerr aus der Nachbarschaft, der womöglich eindringen könnte in das ruhige Dasein, um Sarah Avancen zu machen. „Männer wissen nichts, sie kennen nur ihren Bauch, und wenn’s genügend Platz für ihre Füße gibt, denken sie, alles sei in Ordnung“, ist Annie sich gewiss.
Auch die Gast-Kinder, die Annie eigenartigerweise nur der Junge und das Mädchen nennt, der Junge ist vier, das Mädchen sechs Jahre alt, bringen die Welt mit aufs stille Land. Und das Ungewisse. Es macht Annie Angst, welche Abgründe an Dunkelheit sie geschaut haben könnten. Die Kinder – welches Geheimnis haben sie, sind sie so unschuldig wie man es Kindern nachsagt?
Auf sich selbst zurückgeworfen
Die Andeutungen und Vorahnungen schlagen beim Lesen in Bann: Gibt es ein Familiengeheimnis, im Dunkeln verborgen, dem Vergessen anheim gefallen? Das nicht Ausgesprochene und nicht Aussprechbare sind stets anwesend. Die Gedanken der Annie umkreisen die Irrungen und Wirrungen der Liebe. Der versagten wie der gelebten, der schwesterlichen, der kindlichen und der vorgeblichen mit dem Hintergedanken des Zugewinns
Die Distanz, die Fremdheit und das Nichtverstehen der Vorgänge im Dorf wie in der Familie werfen Annie vor allem auf sich selbst zurück. Mit ihr denkt der Leser über das Älterwerden und seine Kümmernisse und mögliche Leiden nach. Über Einsamkeit und wie das Leben ohne Gemeinschaft denn „nur eine grausame Abfolge von Einzelleben“ ist.
Annie, wie Sebastian Barry sie uns ans Herz legt, ist eine einfache Frau ohne Halt und doch zuweilen wundersam glücklich.
Beate Lemcke
Sebastian Barry, Annie Dunne, Aus dem Englischen von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser, Steidl Verlag, 256 Seiten, Leineneinband, 24 Euro