Die Dinge sehen, wie sie wirklich sind

Adam Fletcher will es wissen zehn Tage im Schweige-Retreat

Der Hang zur Selbstoptimierung in Tateinheit mit einer verbissenen Sinnsuche zeichnet unsere Zeit, wenn man den (sozialen) Medien glauben mag. Wir wollen schön und glücklich und gesund sein und unser ICH in der bestmöglichen Version präsentieren. Problemen treten wir mit Stärke und Effizienz entgegen. Deshalb beginnt das Jahr mit einem trockenen Januar und allerhand guten Vorsätzen. Die nicht selten nach drei Tagen schon Makulatur sind.

Alles nur Erste-Welt-Probleme und Vor-Lauter-Langeweile-Nicht-Wissen-Was-Tun-Auswüchse? Tatsächlich haben fast ein Drittel der Deutschen psychische Probleme. Stress, Burnout und Seelenqualen diversen Ursprungs scheinen unsere Zivilisation zu peinigen. Konkrete Verlust-Erfahrungen oder beispielsweise ein unerfüllter Kinderwunsch setzen davon Betroffenen arg zu. Da kann es nur gut sein, wenn sie sich Hilfe suchen. Kann doch solcherart Intervention oder Prävention mitunter eine dauerhafte ernste Erkrankung abwenden.

Entspannungstechniken, Qi Gong, Yoga… – der Möglichkeiten gibt es viele. Und so wird eines Tages der englische in Berlin lebende Autor Adam Fletcher kurzerhand von seiner Partnerin Evelyn vor die Tür gesetzt als überraschend ein Platz in einem Schweige-Retreat frei wird. Nun, ganz so überraschend kann es für den 36jährigen nicht gewesen sein, denn er war angemeldet. Bis ein Platz frei würde könnte es indes Wochen, ja Monate brauchen. Nun steht seine Tasche gepackt im Flur und der Ich-Erzähler mutmasst irritiert, die Freundin schmeisst ihn raus. Er ertappt sich bei dem Gedanken der Erleichterung, wenn dem so wäre. Die verlockende einfache Lösung. Aber die Freundin schickt ihn auf den anstrengenderen Weg. Adam war schon öfter auf Reisen gewesen, als Reisejournalist sogar. Nun aber sollte es auf die Reise in sein Inneres gehen.

Es mag etwas verstören, wie da scheinbar über seinen Kopf hinweg entschieden wird. Aber vorm Hintergrund des ernstzunehmenden Problems, das das Paar hat (sie wollen Eltern werden und es klappt einfach nicht), scheint diese Fremdbestimmung erstmal akzeptabel. Zumal der Autor die Leser bei Laune zu halten weiß mit Humor und Ironie, kopfschüttelnden Momenten und Flapsigkeit. Immerhin sind WIR noch zu Hause in vertrauter Umgebung und können tun und lassen was wir wollen. Sogar laut lachen oder reden. Sonst könnten wir in unserer aufgeklärten Zeit auch denken: Wow, Adam, diese umgehende Verschickung lässt du mit dir machen?!

Der Autor nimmt uns mit ins Retreat zu den diversen Charakteren, über die unser „Held“ sich lustig macht, um die eigenen Zweifel und Schwächen im Zaum zu halten. Er fühlt mit seinem Zimmerkollegen, wobei er nicht allzuviel über ihn weiß, denn es wird ja nicht geredet. Logisch im Schweige-Retreat.

Schweigendes Meditieren dient dem Zwecke der Selbstwahrnehmung, der Fokus liegt auf eigenen Gedanken und Gefühlen. So soll es dem Stress und seinen Ursachen an den Kragen gehen. Vipassana ist eine Achtsamkeits- und Einsichtsmeditation und gilt als Weg der Selbstveränderung durch Selbstbeobachtung. Im Kern heißt das: „die Dinge sehen, wie sie wirklich sind“.

An den ersten paar Tagen blickt der Autor mit Distanz aufs Geschehen und so kommt alles recht humoristisch daher. Beim Lesen lacht man, auch um eigenes Leid wegzulachen, denn etwas Arbeit an sich könnte man durchaus vertragen, gesteht es sich nur (noch) nicht ein.

An Tag sechs durchlebt Adam Emotionen, für die er ein neues Vokablular braucht. Evelyn schien ihn besser zu kennen als er sich selber. Das führt zur Einsicht: „Man kann die Geschenke des Lebens unmöglich genießen, wenn man ihnen ständig den eigenen Willen aufzuwingen versucht.“

Tag acht bringt die Erkenntnis, dass die Dämonen eigentlich gar keine sind, vielmehr sollte das Augenmerk Dingen gelten, die unseren Geist beunruhigen, die ein Begehren und Abwehren bewirken. Zum Beispiel sich wie ein Kontrollfreak zu verhalten und vor Konflikten davonzulaufen.

Im Buch wechseln die Beschreibungen der Tageszustände ab mit Rückblicken auf die Beziehung zu Evelyn und die Torturen der Kinderwunschbehandlung. Eine Herausforderung für das Paar.

Im Retreat muß der Protagist sich aufs Atmen konzentrieren, EIN-AUS, ohne Abschweifen der Gedanken. EIN-AUS. Wir sind dabei, monoton EIN-AUS. Dabei ist das Lesen manchmal wie dieses Atmen und die Gedanken schweifen ab. Mir ging das ein paarmal so bei seiner Reise ins Ich, wo Phantasie/Traum und Alptraum ineinander übergehen, da hab ich ihn, diesen Adam in seinem Adamistan, verloren.

Aber wiedergefunden. So ist es nun einmal, die Welt und das Leben sind zu komplex für einfache Antworten und Lösungen. So begreifen Adam und seine Leser im besten Falle gleichzeitig, dass das Leben nicht dann am interessantesten ist, wenn man es unter Kontolle hat, sondern wenn man die Kontrolle abgibt.

Beate Lemcke (Februar 2025)

Adam Fletcher „In der Ruhe liegt der Wahnsinn“, aus dem Englischen übersetzt von Ingo Herzke, C. H. Beck, Hardcover, 270 Seiten, 20 Euro

 

 

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