Das Schweigen in den Familien
Alan Murrin schreibt über Irland in den 1990ern
Wo vermeintlich ein Heiligenschein prangt, ist die Scheinheiligkeit oft nicht weit weg. – Das geht mir durch den Kopf, wenn ich die Rolle der Institution Kirche allein im letzten halben Jahrhundert betrachte. In der Republik Irland zum Beispiel hielten die Dogmen der katholischen Kirche die Gesellschaft noch im festen Würgegriff, als dieser sich in anderen europäischen Ländern schon etwas gelockert hatte. Immerhin – bis 1980 war es illegal zu verhüten. Kondome waren zwar ab 1985 erlaubt, allerdings gab es sie nur auf Rezept.
Doch das wunderbare Irland ist immer für eine Überraschung gut. Plötzlich, besonders seit 1995, ging alles ganz schnell und der rasante gesellschaftliche und kulturelle Wandel konnte nur verblüffen.
Im November 1995 entschied sich die Bevölkerung in einem Referendum für die Abschaffung des Ehescheidungsverbots, das seit 1937 in der irischen Verfassung festgeschrieben war. 2015 erreichte weltweit das erste Mal eine Volksabstimmung ein PRO für die gleichgeschlechtliche Ehe. 2018 wurden Abtreibungen legal. Im Folgejahr schließlich stimmte die Bevölkerung für ein liberales Scheidungsrecht, bis dahin hatte Irland aufgrund der strengen Regeln die niedrigste Scheidungsrate in ganz Europa.
Die Kirche war nun lange genug die eigentliche Regierung des Landes gewesen und hatte mit ihrer römisch-katholischen Lehre die Verfassung geprägt. Der Druck, das aufzubrechen, wurde immer stärker, wobei als eine treibende Kraft die Jugend zu sehen ist. Auch die vielen Missbrauchsskandale hatten den Einfluß der katholischen Kirche zurückgedrängt. Plötzlich erstand da ein liberales Musterland wie Phoenix aus der Asche.
Alan Murrins Roman benennt nichts von dem, eher bettet er den Roman in eine Stimmung des Umschwungs, der Ambivalenz, der Sinnsuche und Selbstfindung besonders von Frauen. Wir sind in der Mitte der 1990er Jahre in einer Kleinstadt an der irischen Küste. Der Sound ist geladen mit Klatsch und Tratsch. Beim Lesen gerät man unversehens hinein und ist gleich mittendrin ohne allerdings alles zu begreifen. Es verhält sich wie mit dem Schutzumschlag und dem Buch. Man glaubt, etwas zu sehen, aber es ist nur ein Ausschnitt und selbst wenn man alles sähe, so hieße es nicht zu verstehen.
Im ruhigen Erzählfluss bringt Murrin uns die zwei Hauptfiguren nahe: Izzy und Colette. Izzy ist mit James verheiratet, der für die Regierung arbeitet. Sie fühlt sich schon lange nicht richtig wohl in dieser Ehe, aus der zwei Kinder hervorgingen, und hat ihre depressiven Phasen. Über die helfen ihr unbefangene Gespräche mit ihrem Freund, dem Pfarrer, hinweg.
Dann ist da noch Colette Crowley, eine Dichterin und in allem beneidenswert unkonventionelle Frau. Sie hatte Mann und Kinder verlassen, um in Dublin ihr Leben und ihre Liebe zu leben. Dass sie nun zurückkehrte, zieht die Aufmerksamkeit im Ort auf sich. Im besten Falle von Neugier getrieben, häufiger mit Argwohn und Neid getränkt.
Izzy geniesst die Gegenwart von Colette, ihren Charme, ihre Herzlichkeit und ihre gute Laune. Sie schreibt sich in einen Lyrikworkshop ein, den diese gibt. Die Frauen fassen Vertrauen zueinander und Izzy wird Komplizin als sie Colette hilft, das vom Ehemann verfügte Kontaktverbot zu ihren Kindern zu umgehen.
Mit ihrem Leben arrangiert hat sich auch Dolores. Sie lebt in einer Ehe ohne Liebe und weiß, wie Bitterkeit ein Leben vergiften kann. Neidisch schaut sie auf Colette, die einen Ehemann hatte und einen Liebhaber. Ihr Mann indes ist grausam und seine gesamte Existenz wird von Lügen aufrechterhalten.
In den Nachrichten, im Radio überall wird zu dieser Zeit über die Scheidungslegalisierung diskutiert, aber im Alltag meiden die Leute das Thema. Izzy war mit 16 von der Schule abgegangen und kannte nur das Eheleben in der Kleinstadt mit den eingeschränkten Gestaltungsmöglichkeiten. Welchen Unterschied, so fragt sie sich, würde es machen, gäbe es die Chance, sich scheiden zu lassen? Wie Colette gestimmt hätte, wusste sie. Die wäre nach Dublin, hätte eine Stelle als Dozentin annehmen und wieder heiraten können.
Izzy hingegen beschliesst, das Beste aus dem Gegebenen zu machen. „Das Einzige, was ihr Trost spenden konnte, war die Lektion, die sie von Colette gelernt hatte: dass „Hinnahme nicht gleichbedeutend war mit Resignation“.
Das große Problem, diesen Eindruck hinterlässt die Lektüre, ist das Schweigen in den Familien, das Schweigen zwischen Partnern, die es als Waffe, als Druckmittel benutzen.
Was man mit der Befreiung aus dem Stand der Ehe anzufangen weiß, ist dahingestellt. Aber die Möglichkeit muß es geben. Scheinheiligkeit und Doppelmoral peinigen unsere Zivilisation. Das macht das Buch so aktuell.
Beate Lemcke
Alan Murrin „Coast Road“, erschienen bei dtv, aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll, Hardcover, 384 Seiten, 24 Euro