Weil die Liebe zu groß war

Anne Enright ist im Roman „Vogelkind“ Sprache und Herkunft auf der Spur

Was prägt, was formt den Menschen? Keine geringeren Fragen wirft Anne Enrights Roman „Vogelkind“ auf. Wohlgemerkt, nicht die Schriftstellerin fragt und sie wird auch keine Antworten geben. Es ist das Figuren-Tableau, das beim Lesen Fragen des Seins in Alltag und Philosophie aufwirft, sie leicht antippt und wieder entfleuchen lässt, dann etwas fester anpackt, bohrt.

Der Gimpel mit Lippenstiftbrust

Der verstorbene Dichter Phil McDaragh, eine fiktive Figur, war einmal Hals über Kopf und bis in die Poren für eine Frau entflammt. Späterhin sammelte er andere Damenbekanntschaften wie für einen bunten Blumenstrauß. Eine Neigung zur Selbstverliebtheit konnte man ihm schwer absprechen. Dass die Frauen-emanzipatorische Bewegung noch in den Anfängen steckte, spielte ihm in die Hände. Er nutzte seine Chancen und liebte es, wenn sich alles um ihn drehte.

Was wird aus den Kindern solcher Väter, was aus den Kindeskindern? Die Enkelin Nell zieht einen Gedichtband des Großvaters aus dem Regal. Vor mehr als zehn Jahren hatte sie das letzte Mal darin gelesen, die Poesie ist voller Vögel.

„Pfau und Schnepfe, Amsel und Reiher,

der Gimpel mit Lippenstiftbrust

wie ein hellroter Schleier.“

Über die Verse fühlt sich Nell ihrem Großvater verbunden. „Andere Mädchen hatten Väter und Onkel, ich hatte den guten alten Phil, dessen Worte alles schöner machten.“

Menschen in Anorak und Tweedkappe

Carmel, Phils Tochter, hat andere Erinnerungen an den Vater, der die Familie verließ als seine Frau an Krebs erkrankte. Er hatte das einfach nicht ausgehalten. Die Liebe war zu groß für einen, um den sich alles drehen sollte, um ihn und seine Kunst.

Bei der Beerdigung des Dichters in seiner alten Heimat erinnert sie sich wie es war mit dem Vater. Einem Mann, der das kleine Kaff laut polternd verlassen hatte, die Menschen in Anorak und Tweedkappe verhöhnend, nie werde er zurückkehren. Und doch kamen die Menschen bei seiner Beerdigung aus ihren Häusern und hießen ihren Dichter willkommen.

„Jeder Stadt braucht einen Dichter“ sagt ein Dichter aus Cork. „Damit die Leute sich gesehen fühlen. Verewigt.“

Aus ihm wurde kein Geistlicher

Die Gefühle – auch des Lesers – für Phil sind ambivalent. Anne Enrights Verdienst ist, dass man sich auf ihn einlassen, ihn sogar verstehen kann. Er wurde geformt von seiner Zeit, von der Gesellschaft und der Armut, in der er aufwuchs. Das Erleben einer Dachsjagd wird zu einer Schlüsselszene für den jungen Phil. Bei ihrer ausführlichen und sehr bildhaften Schilderung läuft es einem kalt den Rücken runter während Phil den „Gipfel des Verstehens“ erklimmt. Dies war seine Abkehr von der katholischen Kirche, deren vergeblich angestrebter Pomp ihm erschien „wie eine billige Ansichtskarte aus der Ewigkeit“. Aus ihm wurde kein Geistlicher, sondern ein Dichter.

Carmel denkt immer wieder über ihren Vater nach. Das eigene Leben ist sie mit viel Pragmatismus angegangen. Hat sich einen Beruf ausgesucht, allein ein Kind großgezogen. Anne Enright nimmt sich der großen, der universellen Themen an ohne Schwere. Sie erzählt mit heiteren Momenten. Zwischen den Hauptfiguren, dem Gestern und dem Jetzt springt sie dabei hin und her.

Manchmal muss man ganz weit weg

Die Tochter Nell kommt ein wenig nach dem Großvater, auch sie sucht ihre Stimme. Sie übt ihren Ausdruck bei Social Media, schreibt fiktiv über Reise-Orte. Sie sehnt sich nach Liebe und Beziehungen und erfährt, wie diese einem guttun und gleichzeitig im Weg stehen können. Dabei wird sie erwachsen. Nell entdeckt den eigenen Körper, macht Erfahrungen mit Drogen, versucht, ihre Familie zu verstehen, sich selbst wahrzunehmen und zu vertrauen.

Die Autorin lässt ihren Figuren viel Spiel, führt sie sozusagen an langen erzählerischen Fäden. Zwischenzeitlich weiß man nicht so ganz, wo sie hin will.

Genau wie Nell, die nach Bali reist und dort mehr oder weniger zufällig einen youtube-Clip mit ihrem Großvater sieht. Manchmal muss man ganz weit weg, um wieder bei sich anzukommen. Und so ist es auch mit dem Roman, wenn am Ende die Fäden wunderbar zusammenlaufen und die Geschichte eine poetische Kraft bekommt.

Carmel war der Liebling ihres Vaters gewesen, ihres Daddo, sein “Vogelkind“. Wie sehr kann ein Menschenleben an Heimat, an der Natur, den Pflanzen und Vögeln ausgerichtet sein? Anne Enright ist der Sprache und der Poesie auf der Spur und der Herkunft der Menschen und was diese miteinander zu tun haben.

Für die Dichtertochter Carmel ist ein Interview mit ihrem Vater, dass sie nach vielen Jahren im Internet findet, der Schlüssel zum Verstehen und für eine Annäherung. Phil offenbart, dass er immer nur über Irland schreiben kann. Er vermisst Offaly und den kleinen irischen Zaunkönig. Zwar ging er nach Amerika, aber eigentlich ist er nicht weggegangen aus Irland, es hat ihn immer begleitet.

„Diesen Mann zu hassen, war einfach – die Fakten sprachen für sich – aber ihn nicht zu mögen, fiel schwer. Ihn zu lieben, war erschreckend leicht.“

Beate Lemcke (April 2025)

Erschienen bei Penguin in der Übersetzung von Eva Bonné, 304 Seiten, Hardcover, 24 Euro

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