Debbie küsst Jungs aus Neugier

„Snowflake“, ein erstaunliches Romandebüt von Louise Nealon

Nominell mag dieses Buch auf Seite 343 enden. Doch die Geschichte um die 18jährige Debbie beschäftigt einen noch, wenn der Buchdeckel längst zugeklappt ist. Vielleicht gibt es eine Analogie zum Meer. Steht man davor, wirkt es dunkel und unergründlich, ganz gleich, ob die Oberfläche still liegt, sich kräuselt oder ob wild wuchtende Wellen schlagen. Beim Eintauchen erst zeigt sich die Lebenswelt in ihrer Vielfalt, ungeahnt farbig, mit Pflanzen und Tieren. Ein Variantenreichtum geordnet nach Meeresschichten, wie Debbies Mutter Maeve sie aufzählt, wenn sie vom Meer spricht (und das tut sie mit Vorliebe): Lichtreiche Zone, Dämmerzone, Dunkelzone, Tiefseegrabenzone. Das ganze Leben und der Tod.

Versteinerte Träume

Schneeflocke“ ist ein erstaunliches Romandebüt von Louise Nealon, geboren 1991 und aufgewachsen im irischen County Kildare. Ungewöhnlich in der Form und reich an schönen Sätzen. Roddy Doyle, der Dubliner Schriftsteller, fasst sein Leseerlebnis auf dem Buchrücken so zusammen, wie ich es auch empfunden habe: „Immer wieder dachte ich, ich hätte verstanden, was ich da lese, und immer wieder habe ich begriffen, dass es noch etwas ganz anderes, noch viel Besseres ist.“

Debbie wohnt auf einem Bauernhof mit Milchvieh. Außer ihr sind da noch die 36jährige Mutter und James, der auf dem Hof mitarbeitet. Debbies Mam ist etwas eigen. Sie schreibt Träume auf und zieht sich zurück in ihr Zimmer, ihr Tabernakel, in dem Geschichten quellen wie in einem Aufklappbuch. Ihr gelten Muscheln und Schneckenhäuser als Gedankenfossilien, als versteinerte Träume. Hatte das kleine Mädchen Debbie Kummer, schob sie ihm zum Trost so ein Fossil unters Kopfkissen.

Übers Erwachsenwerden

Und dann ist da Billy, der Onkel, der im Wohnwagen neben dem Haus lebt und dem Mädchen die Sterne zeigt. Bei seiner ganzen rauen Art durchaus versucht, welche für sie vom Himmel zu holen. Auch hat er Debbie mit seinem Faible für die alten Griechen angesteckt. Sie kann die Geschichte um Kassiopeia mühelos wiedergeben, der Königin, die ihre Tochter lehrt, sich selbst zu lieben und zu respektieren.

Debbie ist ein Landei. Sie kommt da her, wo das Internet lahmt und wo man anders spricht als in der Stadt. Ermutigt von Onkel Billy schreibt sie sich am Dubliner Trinity College ein. Doch in der Stadt löst sie sich regelmäßig in Luft auf… zieht sogar Kaffee aus dem Automaten, um bloß mit niemandem in Kontakt treten zu müssen. Sie ist froh, abends zurückfahren zu können in die ihr vertraute Welt.

Es liegt also nahe, dass Leser eine Geschichte übers Erwachsenwerden vermuten. Das ist sie unter anderem auch. Am Trinity College freundet Debbie sich mit Xanthe an, die ist ganz anders als sie selbst mit ihren Minderwertigkeitskomplexen. Eine, die weiß, wie man sich verhält und wie man sich stylt. Eine, mit der man um die Häuser ziehen kann, auf Partys, durch Alkoholexzesse. Es gilt die Losung: Feiern gleich Trinken gleich Gedankenleere. Alle scheinen das so zu machen um sie herum.

Durchs Leben schlingern

Debbie küsst Jungs aus Neugier. Aber leider nicht den einen, der sie interessieren würde, dieser Junge, der zu Hause, im Dorf, „in der Kirche immer hinten steht“. Mit Dublin und dem Heimatort treffen zwei Welten aufeinander, und keine davon ist heil. Der Perspektivwechsel hilft, es zu erkennen. Denn Debbie geht es nicht anders als jedem von uns: oft sind wir zu nah dran oder eben zu weit weg. Auch deshalb verbringt sie gern Zeit mit Onkel Billy beim Sternegucken: „Wir schauen in den Himmel, als ob es von uns abhängt, dass er da oben bleibt.“

Das klingt nach Tagträumerei. Dabei rät Billy Debbie doch, nicht zu viel zu träumen, nicht so viel wie die Mutter, die sei schließlich verrückt. Auch das „richtige“ Trinken meint er ihr beibringen zu müssen, denn das Mädchen schlingert durchs Leben. Wie vielen auch ihrer, der jungen, Generation dient der Alkohol zum Distanz schaffen oder um sich einfach nur auszuschalten, Selbstzweifel oder -hass zu neutralisieren.

Krasse Schicksalsschläge

Debbie erinnert sich, wie sie als Kind plötzlich nicht mehr zum Klavierunterricht gehen durfte, weil bekannt wurde, dass die Klavierlehrerin einen Entzug machte. Die typische Heuchelei und Bigotterie, wie sie besonders auf dem Land ausgeprägt scheinen. „Ein Alkoholproblem zu haben, ist bei uns gesellschaftlich akzeptiert, solange man sich deswegen nicht in Behandlung begibt“. Einen übern Durst trinken ist Überlebensstrategie, darum darf das, was alle lieben, nicht zum Problem werden.

Es gibt wirklich krasse Schicksalsschläge im Umfeld dieser jungen Biographie. Verletzungen, Unfälle und Tod. Am Buch-Ende packte mich die Versuchung, gleich nochmal von vorne zu lesen, um zu ergründen, wann die dunklen Wolken aufgezogen und ob es wirklich mehr sind als in anderer Leben.

Die Welt in Schieflage

Aber die Geschichte ist auch lustig und lebensfroh. Von Neugier und dem Sich-Ausprobieren-Wollen geprägt. Zeitweise läuft alles normal und in ruhigem Fahrwasser, und im nächsten Moment ist es wieder total aufregend. Wie die Mutter ist auch Debbie leicht besessen von Träumen, die Ereignisse vermeintlich vorwegnehmen. Mutter Maeve gilt deshalb als verrückt. Ver-rückt. Vielleicht ist es aber auch die Welt, die in Schieflage ist. Und Debbie und Maeve sind nur besonders sensibel und aufmerksam.

Die Sprache des Buches wirkt authentisch, die Bilder stimmen, und es gibt immer wieder Sätze und Details, die aufhorchen lassen. Wie das winzige in einer Personenbeschreibung, das gleich ein ganzes Scheunentor aufzustoßen vermag für eine Charakterzeichnung. Wenn Debbie Mams Augen beschreibt. Die sind braun. Aber durch das linke geht ein Riss, die Hälfte ist blau „als wolle eine zweite Person aus ihr ausbrechen“.

Beate Lemcke (im August 2022)

Snowflake, Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll, Mareverlag,
gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen,
insgesamt 352 Seiten, 24 Euro

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