Zucker, der sich als Obst tarnt

Der Stich der Biene“ von Paul Murray

Welche Überlebenschance hat eine Autowerkstatt, in der die lose Lenkstange schnell und gut repariert ist, wobei aber dem Auto der Katalysator abhanden kommt? Und dann noch einem Fahrzeug und noch einem.

Und wie kommt ein junger Mann klar damit, dass sein Vater die Lebensplanung für ihn gemacht hat? Im Kaff seiner Kindheit soll er schmoren. Dabei zieht er Dublin vor und redet deshalb seinem Bruder zu, die ihm zugedachte Rolle auszufüllen. Dann verunfallt jener Bruder und er schlüpft zurück in die alte Rolle, um die vermeintliche Schuld zu sühnen. Sogar die Braut des Bruders „übernimmt“ er.

Ein wahrlicher Brocken von Buch ist dieser „Stich der Biene“. Schwer in der Hand liegend wie ein Ziegelstein, ein dicker Brummer, um im (Titel-)Bild zu bleiben, von siebenhundert Seiten.

Vorweg sei gesagt: jede Lesestunde lohnt. Die Weltlage mag dystopisch gezeichnet sein, aber die Menschen sind nicht mutlos, zu keinem Zeitpunkt lassen sie sich kleinkriegen. Das Lesen überschüttet einen so mit Eindrücken, mit Trauer, Erschrecken und Liebe, dass man am Ende gar nicht mehr weiß, wie es angefangen hat. So sehr hält die Lektüre im Moment gefangen.

Spannungsbogen mit Eskalationen

„Der Stich der Biene“ ist ein Buch unserer Zeit der Umbrüche und Unsicherheiten, der schon spürbaren und dräuenden Katastrophen in Klima und Wirtschaft und Politik. Es geht um Aufstieg und Abstieg des einzelnen und die Frage, welchen Einfluss soziales Umfeld, Herkunft, Bildung und Charakter darauf haben.

Der Autor Paul Murray, 1975 in Dublin geboren wo er auch lebt, hat den Roman raffiniert strukturiert und baut einen Spannungsbogen auf mit Eskalationen, die anfangs gar nicht abzusehen sind. In der Zeitschiene des Romans findet sich der Leser gleich mittendrin, es gibt ein Davor und ein Danach.

Die Teenager Cass und Elaine sind Schulfreundinnen, irgendwann – lieber heute als morgen – werden sie die kleine Stadt verlassen und nach Dublin gehen. Momentan vertreiben sie sich die Zeit mit dem, womit die Jugend von heute ihre Zeit vertreibt. Also überwiegend am Smartphone.

Sie leben in einer Welt, in der Leute Dinge tun, nur um zu gefallen. Sie kaufen Sachen, die im Trend sind, setzen sich für Belange ein, die sie am nächsten Tag schon vergessen haben. Es ist das Zeitalter der „Smoothies aus der Tube, Zucker, der sich als Obst tarnt“.

Von allem zu viel

Nach Cass lernen wir ihre Mutter Imelda kennen und Dickie, den Vater. Die Erzähluhr läuft jetzt rückwärts. Die Kern-Familie, zu der noch Elaines Bruder JP gehört, befindet sich in einem aberwitzigen Zustand des Auseinanderdriftens. Dickie trudelt mit seinem Autohaus im freien Fall, was ihm nicht viel auszumachen scheint, denn sein Ehrgeiz ist nunmehr auf den Bau eines Bunkers im Wald gerichtet. Alle Energie steckt er in diese Prepperhöhle, Vorbereitung auf eine mögliche Apokalypse. Seine Ehefrau Imelda muss sich vom liebgewordenen gehobenen Lebensstandard mit attraktiven Urlaubszielen und von allem zu viel in Zimmern und Kleiderschränken verabschieden. Die Kinder Cass und JP kennen die Details nicht, aber spüren viel. Wie kam es dazu, hätte es verhindert werden können? Wann ist wer falsch abgebogen?

Mit Weltgefühl-verändernden Ereignissen wie der Coronapandemie und einem neuerlichen Krieg in Europa sind dem Leser sowohl Preppern als auch Apokalypse keine Fremdworte mehr. Gendern, Wokeness, Dating-Apps, Pronomen prägen die Debatten der modernen Welt. Der Mensch hat es scheinbar einfach zu handeln nach der Maxime: du “suchst dir das Paket aus, das in einzigartiger Weise und allumfassend zu dir passt“. Der Roman atmet diese Gegenwart.

Ein großes Familiendrama

Dass das Handy nichts Lebendiges, nicht seine Familie ist, weiß Dickie. Aber das hält ihn nicht davon ab, viele Tausende Stunden damit zu vergeuden, auf das Display zu starren. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm: wenn beim Sohnemann JP Nachrichten eintrudeln, fühlt der sich, als würde er „mit Süßigkeiten vollgestopft“.

Lesestopp: Moment mal… Was für Freaks sind wir eigentlich inzwischen alle?! Seit Jahrzehnten steht die Angst im Raum, Maschinen könnten irgendwann alles hier auf Erden übernehmen. Und weil der Mensch sich diese so raumgreifend groß wie ihren Einfluss vorgestellt hat, konnte er übersehen, dass er das kleine Ding längst in der Hosentasche hat. Das handliche ständig mit Updates zu fütternde Teil, das seine Besitzer in Spannung hält, dass da etwas aufploppt oder geliked wird, weil wir sonst das Gefühl haben, „wir würden zusammenbrechen“ (Imelda).

„Der Stich der Biene“ ist ein großes Familiendrama. Ein Buch für die Freiheit, was in diesem Fall vor allem bedeutet, sich frei zu machen von Erwartungen der anderen. Vom Einfluss der Eltern auf das Leben ihrer Kinder zum Beispiel, der zerstörerisch wirken kann. Auch Erwartungen in der Partnerschaft gilt es zu befragen, sind sie unterlegt von Liebe oder basieren sie eher auf Pflichtgefühl?

Welche Möglichkeiten und Alternativen bietet das Leben? Dickie beispielsweise zeigt sich angenehm überrascht, wie sehr ihn ein Lebens-Ablauf wie im Eisenbahngleis (einfach weiter, weiter ohne eigenes Zutun) glücklich machen kann.

Die Spannung kommt nicht zu kurz

In diesem Millennium ist im westlichen Europa eine Generation aufgewachsen, die weniger als die vor ihr etwas verheimlichen muss. In puncto Liebe und Lüste zum Beispiel: „die Regale sind vollgepackt, such dir was aus.“

Dickie war leider eine Generation zu früh dran. Was für eine Art sein Leben zu leben – als der Geist seines Bruders. Kann er sich sein eigenes Leben zurückerobern? Neu anfangen, vertrauen, lieben?

Der Autor findet für diese Wechselbäder der Gefühle einen guten Ton, bleibt authentisch in den Gesprächen und den Gedankengängen. Und er schenkt den Lesern immer wieder originelle Bilder, so wenn im Club Jugendliche knutschen: ein „schmatzendes Geräusch als ginge man über Froschlaich“.

Der Leser wird mit Dramen, mit windigen Typen, Kleinverbrechern und verdächtigen Gestalten konfrontiert. Die Spannung kommt nicht zu kurz. Besonders, wenn irgendwann alle Fäden im Wald zusammenlaufen. Der Regen kübelt vom Himmel, der Wind pfeift und die Bäume verbeugen sich wie „Hexenmeister einer schwarzen Messe“.

Dem Rastlosen unserer Zeit entsprechen auch die Perspektiv- und Rhythmuswechsel im Roman. Über lange Passagen enden die Sätze nicht mit Punkt, das hält alles im Fluss, und die Kamera des Erzählens richtet sich in immer kürzeren Abständen auf die einzelnen Figuren.

„Der Stich der Biene“ stand 2023 auf der Shortlist für den Booker Prize, vermutlich auch, weil der Roman unglaublich raffiniert komponiert ist, es aber nicht darauf anzulegen scheint. Seismografisch erfasst Murray die Zerrüttungen, Irrwege, enttäuschten Erwartungen und vergeblichen Hoffnungen seiner Figuren und unserer Gegenwart. Dabei ist Kapitulieren keine Option.

Wie hatte es gleich nochmal angefangen? Wie könnte es weitergehen? Plötzlich sind einem die 700 Seiten gar nicht genug.

Beate Lemcke (im August 2024)

Verlag Antje Kunstmann, aus dem Englischen von Wolfgang Müller, 700 Seiten, fester Einband, 30 Euro

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