Ein Leben füllen statt es zu leeren
Una Mannions Kriminalroman „Sag mir, was ich bin“
Die Täter nicht zu Opfern machen – das steht mittlerweile in Leuchtschrift auf dem moralischen Kompass und ist weitgehend gesellschaftlicher Konsens und Maßgabe für Rechtsprechung, Medien und Politik.
Auf die leichte Schulter genommen werden aber weiterhin die mittelbaren Schäden. Von außen besehen mag es EIN Opfer geben. Aber zumeist sind da noch viele Co-Opfer. Familienangehörige, Freunde und Lebenspläne.
Ein Kind, das aufwächst ohne bedingungsloses Vertrauen in die Liebe seiner Eltern.
Eine Schwester, deren Leben sich leert, wo ein Leben sich doch füllen sollte.
Als Nessas Schwester Deena plötzlich verschwindet, hat Nessa deren Ex-Freund Lucas in Verdacht, sie aus dem Weg geräumt zu haben. Oft genug hatte es Streit gegeben zwischen der psychisch instabilen Deena und Lucas. Wenigstens deren gemeinsames Kind Ruby sollte nicht darunter leiden, und so nahm Nessa das Mädchen mit unter ihre Fittiche und ließ beide – Schwester und Tochter – mit unter ihrem Dach wohnen.
Mit weitreichenden Folgen. Ihren Freund zum Beispiel sollte sie deshalb lieber nicht bei sich übernachten lassen… das könnte ein Problem sein, schließlich hatte das Gericht noch nicht abschließend über die Besuchswochenenden entschieden. Und Lucas schreckte nicht davor zurück, die Frauen zu diskreditieren, wo immer er konnte.
Dann verschwand er auf Nimmerwiedersehen und nahm Ruby mit. Weg aus Philadelphia nach Vermont, abgeschieden und ländlich. Dort brachte er dem Kind das Angeln und den Umgang mit Hühnern bei. Es könnte ein schönes Leben sein, für ein Kind zumal, naturnah, bodenständig und mit Abenteuern. Aber der Vater war Fremden gegenüber voller Argwohn und bewachte das Kind geradezu. Als das Mädchen zur Schule ging und in einen Ruderverein kontrollierte er es durch Handy-Ortung.
Mit zunehmendem Alter fordert Ruby Freiheiten ein und beißt dabei auf Granit. Immer öfter gibt es Situationen, wo sie nur darauf bedacht ist, den Vater nicht in Rage zu bringen und da gibt es vieles. Ihr schwirrt alles durch den Kopf, was er nicht leiden mochte. Wie andere Leute angelten und wo. Dass sie Wassersport machten, dass sie keinen Wassersport machten. Radfahrer, die in Rudeln auftauchten, Radfahrer in Lycrakleidung, Leute, die ins Fitnesscenter gingen, Hippies, Feministinnen usw. Die Schimpftiraden des Vaters nehmen kein Ende, und Ruby schämt sich in Grund und Boden, wenn er damit loslegt.
Die Autorin Una Mannion erzählt abwechselnd von Nessa, Deena und Ruby, rückblickend und in ihrer aktuellen Situation. Wie schon im 2021 erschienenen Roman „Licht zwischen den Bäumen“ versteht Mannion, die in Philadelphia aufwuchs und seit 1990 wieder im Heimatland ihres Vaters, in Irland, County Sligo, lebt, die Spannung zu halten. Lebt Deena vielleicht doch noch? Und wenn nicht – hatte Lucas wirklich seine Hände im Spiel oder war es ein Unfall?
Wichtiger als dies – und da kommen wir wieder zum Anfang – sind die Verwerfungen im Umfeld.
Nessa vermisst ihre Nichte, dieses Verlustgefühl wird mit den Jahren nicht schwächer. Sie hat das Gefühl, nie wieder normal und berührbar zu sein, fühlt sich, als sei sie nur Gift für sich selbst und andere. Sie hat innerhalb zwei Jahren Mutter, Vater und Schwester verloren, außerdem Ruby. Einen Mann vertrieben, der sie geliebt hat, die meisten Freundinnen und Freunde.
Wie wird Ruby mit dem Verhalten der Erwachsenen klarkommen?
Wird wenigstens ihr Leben sich dereinst füllen statt zu leeren?
Beate Lemcke (November 2024)
Una Mannion „Sag mir, was ich bin“, aus dem Englischen von Tanja Handels, Steidl-Verlag, 304 Seiten, Leineneinband, 28 Euro