Die schmutzstarrende irische Geschichte
Sebastian Barrys Roman „Jenseits aller Zeit“ bei Steidl
Nach neun Monaten selbst gewählter Einsamkeit wird der schützende Cordon brüchig. Tom Kettle, Detective Sergeant der Extraklasse im Ruhestand, bekommt unerwartet Besuch. Zwei junge Polizisten stehen vor seiner Tür und bitten um Rat in einer Angelegenheit. Widerwillig lässt er sie ein, um schon einen kurzen Wortwechsel später so weit resozialisiert zu sein, dass er ihnen erst Tee serviert, dann noch gegrillten Käsetoast. Sogar übernachten lässt er die beiden bei sich wegen des unwirtlichen Wetters da draußen an der Irischen See. Es ist ein Abend, an dem der Regen waagerecht gegen die Fenster prasselt, einer, an dem man niemanden vor die Tür jagt. Tom Kettle ist Mensch, anteilnehmend und empathisch.
Dabei hat er mit 66 Jahren, die er mittlerweile auf dem Buckel hat, seinen Glauben an das Gute und Menschliche weitgehend eingebüßt. Mit Bedauern, Schmerz und dem Bewusstsein um diese Fehlstelle. Wie ein vorzeitiges Begräbnis, das seinem eigenen vorangeht, empfindet er das. Dass er über trockenen Humor und eine ausgeprägte Gabe der Selbstreflexion verfügt, nimmt beim Lesen für ihn ein. „Er wusste, in der Brust menschlicher Angelegenheiten steckte, zitternd wie ein Messer, fast immer eine Komödie.“ Da ist ist kein Verdruss, keine Bitterkeit. Nur ein Erkennen, ein Anerkennen und Sich-Dazu-Verhalten.
Tom Kettle hat in seiner beruflichen Laufbahn einiges erlebt, hat in menschliche Abgründe geschaut, wie man sich denken kann. Die dunkelsten Stunden rankten um ein Verbrechen, das gar nicht hart genug bestraft werden kann: Kindesmissbrauch. Solcherart Verbrechen sind wie ein Krieg. Ein Krieg, der zerstörte Leben hinterlässt, verletzte Seelen, untergrabenes Vertrauen und angstvolles Schweigen. In einem alten Fall aus seiner aktiven Laufbahn, der in Gestalt der anfangs erwähnten zwei Besucher wieder auflebt, geht das Böse ausgerechnet von heuchlerisch frommen Priestern aus, ist mithin versteckt unter schwerem Samt, unter Talaren, weihevollen Kleidern und Hosen mit aufgeschnittenen Hosentaschen.
Auch Tom Kettle selber und seine Frau June erfuhren in ihrer Kindheit Gewalt an ihren „verschiedenen Orten schrecklichen Exils“. Sie teilten damit das Schicksal vieler Kinder „in der schmutzstarrenden irischen Geschichte“. Tom also kennt ihn allzu gut, den Schmerz, der aushöhlt. Die Kraft, die in Selbstbeherrschung zu investieren ist. Er wandelt auf dem Grat zwischen Leben und Verdruss.
Was, wenn nach solchem Erleben, das viel zu oft folgenlos bleibt, kein Vertrauen mehr besteht in Richter, Tribunale und Haftanstalten? Was, wenn jemand selber richtet oder rächt in seiner Verzweiflung am System und in seiner Hilflosigkeit? Kann das wirklich befreien oder wirkt es nur wie Freiheit?
Tom und sein Kollege Detective Sergeant Billy Drury waren vor vielen Jahren an einem Tatort in den Dublin Mountains, wo ein Priester geradezu abgeschlachtet worden war. Es gibt Fragen, es fehlen Antworten, es fehlen Fragen…
Der Autor Sebastian Barry und seine Bücher sind ein Geschenk, sie wärmen und lassen erstarren im Angesicht von Schönheit und Schrecken der Welt. Er gewandet auch die Geschichte „Jenseits aller Zeit“ in eine kraftvolle, wunderbare Sprache. Findet Bilder, die ob ihrer Plastizität tief berühren und lange nachwirken. Formuliert so, dass augenblicklich Szenerien vorm inneren Auge erstehen. Zum Beispiel, wenn er die unangenehme Pflegemutter seiner Frau beschreibt als Mrs. Carr mit ihrem „zu einer räudigen Dauerwelle gemarterten Haar“. Die Leser der deutschen Ausgabe können auf den herausragenden Übersetzer aus dem Englischen, darunter vieler Bücher aus Irland, Hans-Christian Oeser vertrauen.
Eine Stelle gibt es im Buch, die komplett ohne Bilder, ohne poetische Wendungen auskommt mit nur einem lakonischen Wort. Da heißt es nur „Aber.“ Es trifft wie ein Beil, das Davor wird vernichtet, relativiert, infrage gestellt. Ein „Aber.“ sonst nichts. Ein ganzes Leben in einem Wort. Das kann Sebastian Barry. Er lässt seinen Charakter Tom Kettle in der Konfrontation mit der Vergangenheit immer näher an sich selbst heranpirschen. Als erzählte er sich seine eigene Geschichte.
Ein neues Buch eines großen Erzählers. Auf angenehm getöntes seidenglattes Papier gedruckt, das bei der Berührung besänftigt. Ein Trost im Angesicht des beschriebenen Unheils.
Beate Lemcke (Dezember 2024)
Sebastian Barry „Jenseits aller Zeit“, übersetzt durch Hans-Christian Oeser, Steidl Verlag, Leineneinband, 304 Seiten, 28 Euro