Jeder neue Tag nimmt etwas weg von der Zukunft
„Das Lied des Propheten“ von Paul Lynch
„Ich hör‘ fast keine Nachrichten mehr“ ist der Satz, der in meiner Hitliste der am häufigsten vernommenen seit längerem einen Spitzenplatz behauptet. Auch ich habe mir angewöhnt, zu dosieren. Unter Seelenhygiene läuft das dann. Aber ich bin interessiert am Leben, will verstehen, vorbereitet sein. Auf das, was dem Menschen, der Gesellschaft blühen kann. Der Firnis der Zivilisation ist bekanntlich dünn.
Der irische Autor Paul Lynch malt in seinem Roman „Das Lied des Propheten“ jenes Szenario eines immer durchlässiger werdenden Schutzfilms für die demokratischen Verhältnisse. Das kann in Irland sein, aber auch anderswo. Erst korrodieren sie, dann brechen sie weg, die Barrieren, die vor Rechtlosigkeit, Autokratie und Brutalität bewahren sollen.
Vorm ersten Satz an stellt sich das Gefühl einer sich zuziehenden Schlinge ein. Oder eines Spinnennetzes, in dem man sich verfangen hat, und es wird enger und enger. Beklemmend. Atem abschneidend.
Eine Notverordnung tritt in Kraft
Eilish und Larry Stack sowie ihre vier Kinder sind eine ganz normale Familie. Ein Haushalt ist zu organisieren, beide haben anspruchsvolle Jobs, über Ostern ist ein Urlaub bei Eilishs Schwester in Kanada geplant. Alles in allem so viel Glück und so viel Anspannung und so viel Alltag in seiner täglichen Wiederholung wie sie wohl überall zu finden sind.
Dann tritt im Land plötzlich eine Notverordnung in Kraft. Larry, der für eine Gewerkschaft arbeitet, ist in Gewahrsam und Eilish gilt als Sicherheitsrisiko. Das Internet wird abgedreht, der Datenfluss kontrolliert.
Bei ihrem Vater Simon löscht Demenz die Erinnerung aus, bei Eilish legt sich schwerer Mehltau der Gewalt, des autoritären Regimes über ihr Leben und die glückliche Vergangenheit (ja, plötzlich ist es Vergangenheit) mit Mann und Kindern.
Das Herz zu krank zum Denken
Die zunächst nur theoretische Gefahr, die sich in psychischem Druck äußert, verwandelt sich in Windeseile in reale Gewalt. Waffen, Explosionen, Einschläge in Häusern geben den Ton vor und … der Granatsplitter im Schädel eines Jungen.
Umso schwerer wiegen in solchen Zeiten kleine Gesten, Momente der Solidarität und Menschlichkeit. Was ist zu Hause? Was ist Heimat, wenn Bleiben hieße „in diesem Dunkel zu verharren“? Wenn das Herz zu krank zum Denken geworden ist und in einem Käfig gefangen scheint. Die Zeit ist im Fluss, jeder neue Tag nimmt etwas weg von der Zukunft.
Wir lesen von Eilish, der Mutter mit einem zahnenden Kleinkind im Arm, „das Aroma der Angst an ihrem Körper, … das Kind nimmt das Trauma der Mutter in sich auf und speichert es im Körper zu späterem Gebrauch … sie hält einen beschädigten Mann im Arm.“
Unter anderem für solche starken Bilder, die das Buch prägen, gab es den Booker Prize 2023.
Wie überwindet man das Schweigen? „Das Lied des Propheten“ ist ein Plädoyer gegen das Wegsehen und Weghören. Für ein Gestalten wo und wann immer es geht…
Beate Lemcke (im August 2024)
Verlag Klett-Cotta, Hardcover mit Schutzumschlag, aus dem Englischen von Eike Schönfeld, 320 Seiten, 26 Euro