Yes, yes, yes

Werner Schmidts Kompendium „James Joyce und die Farben des Ulysses“ gewährt sinnliche Einblicke

Ein schmerzvolles Thema für James Joyce waren seit seiner Lebensmitte seine Augen und die abnehmende Sehkraft deretwegen er sich zahlreichen Behandlungen und Operationen unterziehen musste. Ob deshalb seine Tochter den Namen Lucia trug – den der Schutzheiligen für das Augenlicht – ist nicht überliefert. Indes ist bekannt, dass der Literat Ende der 1920er Jahre bereits so schlecht dran war, dass er kaum etwas aufs Papier bringen und wenn dann das Geschriebene schwerlich entziffern konnte. Die Dioptrienzahl lag 1932 schliesslich bei plus 17, eine für das linke Auge eher symbolische medizinische Verordnung, da er auf dieser Seite nur noch hell von dunkel zu unterscheiden wusste.

Umso visueller mag einem Joyce‘ literarische Arbeit vorkommen. „Ulysses“ (zuerst 1922 in Paris veröffentlicht) ist der moderne Roman schlechthin und sprengte die bis dato bestehenden Grenzen des Erzählens. Die innere Welt der Charaktere, die Bewusstseinsströme wurden zu einer Bereicherung von unschätzbarem Einfluss.

Gleichzeitig könnte dieser große Roman – so raunen Skeptiker – das womöglich berühmteste ungelesene Buch der Literaturgeschichte sein. In Deutschland von Suhrkamp aufgelegt, gehen auch über hundert Jahre nach seiner Ersterscheinung noch jährlich ca. 900 Exemplare des Romans über die Ladentische, wie vom Verleger des hier besprochenen Bandes zu hören ist.

Vorzüge des lauten Lesens

Über Joyce‘ Sprache wurde viel geforscht und niedergelegt, einem weiteren Aspekt wendet sich nun der Band „James Joyce und die Farben des Ulysses“ von Werner Schmidt zu. Der Künstler mutmaßt und ermuntert in seiner Einführung: „Spürt man die Aura des Unverstandenen, Unbegreiflichen nicht deutlicher, wenn man sich vertrauensvoll zunächst sinnlich darauf einlässt?“

Sinnlich klingt auf jeden Fall schon mal gut im Zusammenhang mit Bildender Kunst und Literatur. Auf den Ulysses kann man sich sinnlich beispielsweise einlassen, indem man ihn laut liest, was dem Klang der Wörter und der Textmelodie zu ihrem Recht verhilft. Diese Erfahrung machte ein kleiner Lesekreis, der sich seit dem Frühjahr 2023 alle zwei Wochen im kleinen Laden „Irish Berlin“ in Berlin-Mitte einfand. Mal waren wir zu fünft, im Kern zu dritt, wir haben ausschließlich gelesen (nicht debattiert), das englischsprachige Original, versteht sich. Nach einem Jahr und zwei Monaten blätterten wir die letzte Seite um. Es war ein Erlebnis. Zugegebenermaßen stand ich einige Male ziemlich auf dem Schlauch, aber wir lachten viel und wunderten uns und nickten verstehend oder ungläubig. Mit dem Lesen war das Lesen nicht zu Ende, wie ich merkte. Im Nachhinein ploppte immer nochmal eine Erinnerung auf und plötzlich klärten sich Dinge. Umso mehr seit ich den Band von Schmidt in die Hände bekam und mit zunehmender Begeisterung anschaute und las.

Man muss schon sagen: dieses Buch ist ein Glücksfall. Es gibt Bücher, die unterhalten, welche, die liest man mit Spannung oder Erkenntnisgewinn. Und dann sind da jene, da spürt man, die bringen einen weiter. Die wird man wieder und wieder zur Hand nehmen. So eines ist Schmidts Buch. Zumal es auch haptisch eine Freude ist, es liegt gut in der Hand, nicht zu schwer, das Gewicht liegt vor allem im Inhalt.

Das „Denken durch die Augen“

Wie gesagt: ein Glücksfall. Und das nicht nur für Spezialisten, zu denen sich die Rezensentin wahrlich nicht zählt. Es überzeugt das Augenmerk aufs Spielerische, der Spaß am Entdecken. So wie ich es im Juni 2025 bei einem Pre-Bloomsday-Walk durch Dublin erleben konnte. An die sechzig Bücherfreunde, die meisten mit einem Ulysses unterm Arm, zogen wir unsere Spur kreuz und quer durch Dublin, durch Temple Bar, an Destillen vorbei über die Liffey zum leider der Abrisswut zum Opfer gefallenen Ormond-Hotel, das im Roman eine Rolle spielt. Dort und an anderen Schauplätzen des Romans stoppte die Gruppe, um mit spontan verteilten Rollen Passagen aus dem Buch zu lesen. Dieses ernst/unernste Unterfangen bereitete diebische Freude, wie an den himmelwärts gerichteten Gesichtszügen aller abzulesen war. Auch an jenem Nachmittag, organisiert vom James Joyce Institute, war unverkennbar, dass das Laut-Lesen die Sinne besonders anspricht und die Wahrnehmung erweitert.

Werner Schmidt hat über Jahrzehnte Joyce gelesen. Immer tiefer ist er eingetaucht. Was er darüber teilt und mitteilt verlegt sich aber nicht ins Theoretische, nicht ins Unverständliche sich Verästelnde des Intellektuellen, sondern Schmidt initiiert ein Fühlen über Farben, über Fotos und Gemälde. Den Protagonisten im Ulysses ist das „Denken durch die Augen“ durchaus vertraut.

Komplexe und Konflikte eines Joyce

Heraus kam das Konzept für ein Buch über das sehr persönliche Leseerlebnis und über die Analyse von Text und Farbschema, eine malerische Hommage und eine Versammlung von Aufsätzen eingefleischter Joyce-Experten. Vier Jahre hat Schmidt nach einem Verlag gesucht und dann klappte es plötzlich im Handumdrehen, die Chemie mit DCV stimmte, und begleitend zur Bucherscheinung gab es eine Ausstellung in der Berliner Galerie Tammen.

Zuallerst erfreut, wieviel Aufmerksamkeit der Gestaltung des Buches zuteil wurde, formal wie inhaltlich. Die Kapiteleinteilung folgt Joyce‘ Definition eines Kunstwerkes. So werden Wahrnehmung, Materialität, Übertragung und Erinnerung zum geistigen Handlauf für die Lektüre.

Die farblich brillanten Abbildungen sind mittig oder an den Blattrand geschoben als drohten sie aus dem Band zu fallen. Diese abwechslungsreiche Ästhetik überzeugt.

Schmidt wollte eigentlich Musik studieren, er ist ein rhythmischer Mensch. Auch Joyce war Musiker. Dass Schmidt, der aus einer Farbfabrikanten-Familie stammt, schließlich Künstler wurde, hatte sein Großvater sich sehr gewünscht und Schmidt empfand dem nachzugeben als Verrat an seinen Eltern. Die Komplexe und Konflikte eines Joyce vermag er daher nachzuempfinden.

Auch das könnte ihm geholfen haben, sich mit Haut und Haar auf das Werk einlassen. Über Jahrzehnte beschäftigte er sich mit dem „schwierigen“ Wälzer Ulysses und kam auf die Idee, die Farben im Text zu sammeln, zunächst schlicht über die Farbnennungen. Ganz konkret und mathematisch durch das Zählen und Eintragen in eine große Tabelle. Die Primärfarben (rot, blau, gelb), die Sekundärfarben (orange, grün, violett), dann weitere, grau, braun, Bunttöne, schwarz und weiß. Zudem hielt er schriftlich Gold, Silber, Bronze sowie Eigenschöpfungen von Joyce fest.

Nicht zu verbissen ‚wissen‘ wollen

Schmidt folgt den Akteuren durch den Roman samt den Farben, für die sie stehen. Da wären die lohbraunen Schuhe des Blazes Boylan, die flohfarbenen Handschuhe, von denen Buck Mulligan spricht oder die violetten Strumpfbänder von Molly Bloom. Viel zitiert ist auch die rotzgrüne See, das „snotgreen“. Die Färbungen, die sich aus der Häufigkeit der benannten Töne ergibt, verweist darauf, wie viel Gestaltungswillen der Literat in sein Kunstwerk einfließen ließ.

Freilich ist bekannt, dass Joyce, der Rätsel liebte, solche gerne auch seinen Lesern aufgab. Noch mehr vielleicht den Kritikern, die sich später einmal an ihm abarbeiten würden. Schmidt rät: Vielleicht ist uns am meisten bei seiner ’schwierigen‘ Lektüre geholfen, wenn wir einfach auch spielen, aber nicht zu verbissen ‚wissen‘ wollen.

Das Circe-Kapitel hat er launig einfach mal eingedampft auf den Farbrausch, alle Erwähnungen von Farben erscheinen ihrer Reihenfolge im Original gemäß als fortlaufender Text.

Sehen lernen und lesen lernen

Im Jahre 2004 durchstreifte Schmidt Dublin und fotografierte. 24 Fotos sind in einer Art Fotoessay assoziativ Textstellen zugeordnet. Stadtfotos, eine Krawatte im Rinnstein, Grabstätten in Glasnevin. Die Motive folgen nicht touristischen Pfaden und haben so eine gewisse Allgemeingültigkeit, wie der Ausstellungskurator und Publizist Dirk Teuber schreibt. Teuber weiß viel über Schmidt, er kommentiert dessen Werke der 90er Jahre Bildtafel für Bildtafel und schreibt über dessen Begegnung mit dem Werk von Joyce. Über das Malen, das Schauen und wie er Farbe, Form, Format und Gestalt zusammenbringt bis an einen Punkt, „dem er nichts hinzuzufügen weiß“.

Sehen lernen und lesen lernen – zu beidem leistet das Buch einen sinnlichen, vergnüglichen und erhellenden Beitrag. Eine Reihe in überzeugender Bildqualität gedruckter Bildtafeln stellt Schmidts Werk der 1990er Jahre vor. Oft zeigen sie in Mischtechnik auf MDF/Eiche aufgetragene Farbschichten und -schlieren, verwischt, vermischt, ineinandergreifend. Trotzdem nicht versuppend oder schmutzig, sondern klar und pigmentreich. Die Farbe wirkt sehr schnell aufgestrichen und es lässt sich erahnen, dass die große Kunst darin lag, rechtzeitig innezuhalten. Der „Sanfte Sturm“ wirkt nur auf den ersten Blick schwarz/weiß. Teilweise ist an den Bildrändern der bloße Untergrund zu sehen, in den Farbkörper getriebene Schrunden und Kratzer verletzen die vage, diffuse und weiche Anmutung.

Erstaunliche Nebensachen

Schmidt (Jahrgang 1953), der in Oberkirch und Berlin lebt, hat inspiriert von einem Satz in Finnegans Wake das dreiteilige Werk „Oranges have been laid to rust upon the Green“ gemalt (1994, Mischtechnik auf Karton/Holz). Auch hier wird erfahrbar, wie sehr seine gestische Malerei in Bewegung bleibt. Als trüge das Bild etwas Vergehendes in sich, dem Wetterwendischen vergleichbar. Da ist der matte müde schmutziggrüne linke Teil mit dem Viertel in verwittertem Orange. Dann der lebendige Mittel-Part mit aufflammendem Orange auf Blau, schließlich das milchige Weiss wie drei Tage Regenwetter auf der rechten Bildtafel. – Ein Bild, mit dem man eine ganze Weile zubringen kann und es wird immer wieder ein anderes sein.

Es folgen Texte von 20 Autoren zu James Joyce, die ihn lesen, interpretieren, kritisieren (teilweise in englisch). So über das Rotlichtmilieu in Joyce‘ Nachtstadt (Florian Arnold) und die Leistung des Schriftstellers, die „eigene Stimme in den vielfach gespaltenen Zungen, in denen die Welt spricht, zu verlieren“ (Jakob Brüssermann). Man erfährt erstaunliche Nebensachen, so schreibt Jurate Levina, Joyce habe begonnen, während des Schreibens ein weißes Hemd zu tragen, damit durch das reflektierte Licht ihm das Lesen leichter würde. Heinz Brüggemann widmet sich der Form- und Bildsprache der klassischen Moderne und der literarischen Technik des Bewusstseinsstromes. Auf ein biografisches Detail verweist Christa-Maria Lerm Hayes: Werner Schmidts Familie besaß über Generationen einen Betrieb, der Farben herstellte und vertrieb. Dieser Hintergrund mag mit erhellen, was Schmidt antrieb, sich mit der Farbe einen Weg durch den Ulysses zu bahnen. Erik Bindervoet lässt sich über Farbenblindheit aus, Susanne Peters nimmt sich die verschiedenen Schemata zu Ulysses vor, die Joyce‘ Erzählweise darzustellen suchen.

Die irische Brechung des Englischen

Ursula Zeller beleuchtet Malerei und Literatur im Wettstreit um die Abbildungskraft, das Lautmalerische, Satzstrukturen. Der Joyce-Experte und Gründungsdirektor der Zürcher James Joyce Stiftung Fritz Senn widmet sich dem Übersetzen. Er schreibt über die Färbung der Sprache und die irische Brechung des Englischen bei Joyce. All diese Joyceaner schauen aus verschiedenen Blickwinkeln auf das Werk des Literaten, und es ist wunderbar, dass Schmidt diese namhaften Autoren aus Kunstwissenschaft, Semiotik, Literatur und Philosophie für den Band gewinnen konnte. Sie kommen aus Deutschland, der Schweiz, Österreich, den USA, Litauen, Irland.

Dieter Ronte bringt dann nochmal den Ulysses und die Bildkunst von Schmidt zusammen, wenn er die komplizierten Gedankengänge von Joyce und ihre Versinnlichung auf den Gemälden verschränkt, es entstünden „Emotionen als Erfahrung eines neuen Sehens“. Er führt das noch weiter bzw. zurück auf Adorno: „Kunst komplettiert Erkenntnis um das von ihr Ausgeschlossene“.

Und dann klappt man diese Seite ziemlich am Ende des Bandes um und erblickt vier phantastische Bildtafeln und der Blick saugt sich fest, die Emotionen begeben sich in den freien Flug.

Beate Lemcke (Juli 2025)

Erschienen bei DCV – Dr. Cantz’sche Verlagsgesellschaft, 328 Seiten, ca. 243 Abbildungen, Hardcover mit Prägung, Lesebändchen und Poster, 59 Euro

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