Wie Schutt, der ins Rutschen gerät
Christine Dwyer Hickey „Schmales Land“
Das große Thema dieses Romans ist ein allgegenwärtiges: die Einsamkeit. Dieses Empfinden, fremd zu sein in seiner Umgebung. – Einsamkeit gibt es in Familien und im Paarsein, sie verliert sich nicht in Gesellschaft, sondern kann dann um so quälender wirken. Fast erwartbar erwischt sie einen Jungen, den die Zeitläufte auf einen anderen Kontinent, in eine neue Familie spülen. Aber auch ein anderer bekommt sie zu spüren, der behütet und in Wohlstand aufwächst. Umsorgt von Mutter, Großmutter und Tante, die seine Not nicht entdecken. Die Einsamkeit der Künstlerin im Schatten des berühmten Mannes wiederum wird befeuert von Zweifeln gut genug zu sein, wahrgenommen und akzeptiert.
Niemand kann aus seiner Haut
All diesen Figuren nähert Christine Dwyer Hickey sich zärtlich. Einfühlsam zeichnet sie die vielschichtigen Charaktere, ihr undurchdringliches Wesen wie das zaghafte Sich-Öffnen. In Dialogen und Beschreibungen von einer Leichtigkeit, die den Roman zu einem wunderbaren Leseabenteuer machen. Sie wertet nicht, auch Sprödigkeit und Egozentrik haben ihre Berechtigung, schließlich kann niemand aus seiner Haut.
Eigentlich gibt es zwei oder auch drei Geschichten zu erzählen, und es ist raffiniert, wie die Autorin diese miteinander verschränkt. Eine zufällige Begegnung ist Ausgangspunkt, und dann bringt eines Licht ins andere.
Nach Cape Cod in die Sommerfrische
Da ist der nach New York adoptierte Michael. Dorthin kam er aus Deutschland im Zuge einer Rettungsaktion des amerikanischen Roten Kreuzes. Trumans Dekret zu Displaced Persons von 1945 erlaubte, von den Kriegsfolgen getroffene Kinder in die Vereinigten Staaten zu bringen. Michael war einer der letzten vermittelten Waisen und lebt seit vier oder fünf Jahren bei der Familie Novak in New York.
Der Junge hat Angst vor Tunneln und er soll nicht mehr deutsch sprechen und er soll sich mal erholen. So startet die Adoptivmutter gemeinsam mit der Wohltäterin Mrs. Kaplan, die sich für die Waisenkinder einsetzt, einen zweiten Versuch, ihn nach Cape Cod in die Sommerfrische zu expedieren. Derweil wollen die Adoptiveltern eine neue Wohnung finden, denn sie erwarten ein Baby.
Dem Jungen ist das ungeheuer
Auf also von New York ans Meer, für sechs ganze Wochen. Als Glücksverheißung wird ein Gleichaltriger angeführt, mit Hund sogar, und sowieso der Strand, das Meer. Was jeden Erwachsenen locken würde, löst in Michael Angst aus. Sein Gefühl von Entwurzelung reist mit als er in den Zug gesetzt wird mit den üblichen Ansagen: Sag Ma’am zu der Gastgeberin, sprich nicht mit vollem Mund, keine Lügen! Dem Jungen ist das ungeheuer. Was, wenn sie ihn in New York bloß loswerden wollen? Einzelne Dinge klemmen „irgendwo in seiner Erinnerung, wie allerhand anderer Schutt, der manchmal ins Rutschen gerät“.
Der Leser erfährt die Zusammenhänge scheibchenweise, über die 400 Seiten verteilt, und es ist für den Moment auch nicht wichtig. Im Paradies angekommen, wird der Junge nicht warm mit seinem vorgesehenen Spielkameraden Richie. Auch glaubt er, dass Richies Mutter Olivia ihn nicht mag, weil er Deutscher ist und Deutsche ihren Mann umgebracht haben im Krieg.
Sich hoffnungslos verlieren
Aus New York angereist ist zum Sommerbeginn ebenfalls das Künstlerehepaar Josephine und Edward Hopper. Wie in den Jahren zuvor. Doch wird dieser sich als ein „mühsamer Sommer“ herausstellen, künstlerisch wie körperlich. Das nach außen leicht schrullig wirkende Künstlerehepaar kämpft mit schöpferischen und Ego-Problemen. Der Maler, der auf die siebzig zugeht, will nicht mit leeren Händen nach New York zurückkehren. Er sinniert über die künstlerische Vision und das Ende derselben, möchte sich hoffnungslos verlieren. Alles sieht er mit den Augen des Malers, als Komposition aus Licht und Schatten. Christine Dwyer Hickey führt in eine flirrende Erzählwelt, die des Malers Bildlandschaft spiegelt. Man atmet diese Atmosphäre, das Licht, man geht mit dem Maler auf Motivsuche. Wie das alles erzählt wird, ist so getränkt mit einem Gefühl von Sommerferien und mit Liebe, dass es einen mitnimmt. Die Übersetzerin Uda Strätling ist eine Co-Autorin auf Augenhöhe.
Worte sind die tödlichsten Waffen
Die Frau des Malers blieb bislang ohne künstlerischen Erfolg und sosehr sie ihm wünscht, zu schöpferischer Kraft zurückzufinden, neidet sie ihm seine Art zu leben. Mit Argwohn sucht sie zu entschlüsseln, welche schöne Frau wohl für seine Bilder als Modell getaugt haben mag. Und was es mit dem Band zu Katharina, Tochter von Mrs. Kaplan, auf sich haben könnte. Ist es gewebt aus Begierde oder Mitgefühl? Sie selber ist keine Frau der „Ja-Schatz-nein-Schatz-noch-etwas-Nachtisch-Schatz-Sorte“. Hätte ihr Mann so eine lieber?
Sie wehrt sich gegen den Gedanken, ohne ihn nur ein Geist zu sein. Es wäre an ihr, eigene Freundschaften zu pflegen, nicht nur durch ihn zu leben, aber als Gegenwehr fällt ihr lediglich ein, den Haushalt zu sabotieren und sich nicht zur Küchen-Mamsell zu machen. Im Kampf zwischen den beiden sind Worte „die tödlichsten Waffen, unerbittlich, böse, krank. Schnitte man sie auf, würden sie eitern“.
Mrs. Aitch – wie sie wegen ihres ersten Buchstabens im Nachnamen genannt wird – und der Junge Michael finden einander. Wenn sie mit ihm zusammen ist, wird Einsamkeit aus ihrem Leben entfernt und Liebe hinzugefügt.
Beate Lemcke
Christine Dwyer Hickey „Schmales Land“, Aus dem Englischen von Uda Strätling, Unionsverlag, gebunden, 416 Seiten, 26 Euro