Im Beutel unseres Herzens
Niall Williams‘ Roman „Das ist Glück“ versetzt mit viel Empathie und Witz ins „alte“ Irland
Es gibt Bücher, da denkt man beim Lesen: Dieser Roman schreit danach verfilmt zu werden. Doch „Das ist Glück“ von Niall Williams IST schon der Film. Williams schreibt so detailliert und bildreich, dass das Lesen einen in Bann und in die Tiefen einer teilweise vergangenen irischen Welt zieht. Man hört den Regen, spürt die Sonne, riecht den Torf, sieht die Gestalten in ihrer facettenreichen Individualität und das Landleben in seiner rauen Schönheit.
Hach!
Es gibt, so heißt es im Roman, zwei Arten, Geschichten zu erzählen, die schlichte und die barocke. Da die schlichte, getarnt als Wahrheit, alsbald von der Politik kompromittiert worden sei, mieden wahre Geschichtenerzähler sie und entschieden sich für das Barocke. Bei Williams quillt es aus den Buchseiten dass es seine Art hat. Noel, Christy, die ganze Dorfgemeinschaft von Faha hat sich aufs Ausbreiten von Geschichten verlegt, und selbst ein Schweigen kann ja durchaus beredt sein.
Mit offenen Augen und weitem Herzen
Wir sind also in diesem Dorf in Irland, und es ist das Jahr 1958. Wobei das eine Zahl ohne Bedeutung ist, denn die Bewohner leben wie im Jahrhundert davor. Nun aber gibt es zwei einschneidende Ereignisse. Zum einen soll das Land elektrifiziert werden. Zum anderen setzt der dauernde vom Tröpfeln bis zum schmetternden Guss variierende Regen aus, der die ewige Konstante in aller Leben ist. Beides sind enorme Herausforderungen für die Menschen, die wir als bodenständig und in Maßen schrullig kennenlernen. Sie sind Überlebenskünstler, widerstandsfähig, erdverbunden und wie schon erwähnt qua Geburt unermüdliche Geschichtenerzähler. All das ist liebevoll gesehen und beschrieben mit offenen Augen und weitem Herzen.
Geschichten aus lauter Lücken
Noel Crowe, genannt Noe, ein siebzehn Jahre junger, etwas linkischer Mann, kam „ohne jede Anleitung für das Leben aus dem Priesterseminar“ ins Dorf, um bei seinen Großeltern zu wohnen und seinen noch unklaren Weg durchs Leben zu finden. Ins Dorf strebte auch ein weitgereister Fremder, Christy, Mitte sechzig, um im Auftrag der Regierung für die Elektrifizierung zu werben. Noe wird zu seinem inoffiziellen Assistenten. In Christy findet er, der noch seine Bestimmung (und die Liebe) sucht, eine Art Vorbild, einen Vertrauten und Freund. „Jeder Mensch“, so erkennt Noe, „trägt eine Welt in sich. Aber manche verändern die Luft, die sie umgibt.“ So einer ist Christy. Wenn er erzählt, bestehen die Geschichten aus lauter Lücken, und damit wirft er den Köder aus für fortwährend interessierte Zuhörer.
Eine Landkarte aus Klang
Der Regen also hat ausgesetzt. Und Faha wie das ganze Land bereitet sich auf Ostern vor. Da werden Friseure angesteuert und Osterbraten besorgt. Und das Pub dient wie in allen Jahreszeiten als Herzstück, hier werden die Menschen zu einer Gemeinschaft, die Musik dehnt die Zeit und wer sich auf sie einlässt ist zugleich im Jetzt und wird um Jahrhunderte zurückversetzt. Noe ist verblüfft, dass man die Musizierenden nicht vom Publikum unterscheiden kann bis sie zu ihren Instrumenten greifen. Vorher sahen sie aus wie Bauern, rauchten, tranken, plauderten. Die Besonderheit der irischen Musik ist, dass ein Stück ins nächste übergeht, ein Reel zum nächsten führt bis alles sich immer weiter verzweigt und eine Landkarte aus Klang entsteht. Genau so wird in Irland auch erzählt. Reisende können sicher bestätigen, dass es genau so ist. Auch heute noch.
Als Beispiel dafür, wie wunderschön die Bilder sind, die der Autor für das Geschehen findet, mag diese Szene gelten. Es singt Christy, und er gibt alles. Er wird fünf Zentimeter größer wovon er selbst nichts merkt. Wir alle haben diese fünf Zentimeter in uns, „fest zusammengefaltet im Beutel unseres Herzens“.
Einfach nur weil man am Leben ist
Es bleibt also trocken und heiß über etliche Tage, und dieses Phänomen breitet ein schweres Tuch aus über Faha, wo sich eine allumfassende Trägheit breit macht. „Hunde lagen wie umgekippt mitten auf der Straße und jagten nur pfotenzuckend im Traum.“
Verstehen Sie, was die Rezensentin damit meinte, als sie am Anfang schrieb, der Roman selbst sei schon seine Verfilmung?
Solche Szenen sind es auch, die den Roman-Titel begründen. In den allermeisten Momenten im Leben kann man sagen: Das ist Glück. Einfach nur weil man am Leben ist und fähig, es zu sagen.
Das Buch wirft einen wehmütigen Blick auf die alte Zeit mit Postamt und Apotheke und Pub im kleinen Dorf, mit kurvigen Straßen und jahrhundertealten Steinmauern. Der Autor, der seine Zuneigung für das Landleben unschwer verbergen kann, ist Jahrgang 1958 und wohnt im County Clare.
Beate Lemcke (Mai 2025)
Ullstein Verlag, aus dem Englischen von Tanja Handels, Hardcover mit Schutzumschlag, 464 Seiten, 24,99 Euro

