Gegen die Erinnerung gibt es keine Impfung

Sebastian Barry „Mein fremdes, fernes Land“

Kriege sind Schlachten, in denen gelitten und gestorben wird, gemetzelt, ausgehalten, überlebt. Nichts davon wird in Sebastian Barrys Buch beschrieben. Und doch ist es ein Buch über Kriege. Kriege, die die Seele zerstören. Nicht nur der aktiv Beteiligten, die Traumatisierendes erleben und deren mentale Gesundheit dauerhaft Schaden nimmt. Auch der Daheimgebliebenen, die hoffen und harren, denen Väter und Brüder und Söhne genommen werden. Weil sie allzu oft nicht zurückkehren oder nurmehr als blasses Abbild ihrer selbst, abgestumpft und mit eingedampfter Lebensfreude.

Irgendwo ist immer Krieg

Lilly Bere ist die Tochter eines Polizisten in Dublin. Wir erfahren auf 259 Seiten, wie ein Mensch im Leben gewinnen kann – vielen Widerständen und Steinen, ja Felsbrocken im Weg zum Trotz – und alles wieder verliert. Lilly lernen wir kennen als Frau von 89 Jahren, die der Tochter ihrer ehemaligen Arbeitgeberin nach Bridgehampton gefolgt ist. Das liegt in Amerika, wohin die junge Frau auswandern musste einer Liebe wegen.

Die Realität im Europa von 2022/23 konfrontierte uns mit der ernüchternden Wahrheit, dass irgendwo auf der Welt immer Krieg ist. Aber, so erlebt es auch Lilly Bere: „der Krieg, bevor die Familien nicht gezwungen wären, ihre Söhne hinzuschicken, (schien) in weiter Ferne zu liegen…“

So war es im Ersten und im Zweiten Weltkrieg und immerfort.

Ein unumstösslicher Entschluss

Lilly war zwölf als ihr Bruder Willie in den Ersten Weltkrieg zog. Er fiel und gesellte sich zu den vielen „verlorenen Namen in der Geschichte der Welt“. Sein Freund und Kamerad Tadge Bere überlebte den Krieg und was danach kam… schließlich doch nicht. Mit ihm war sie nach Amerika gegangen für einen Neuanfang. Jetzt ist sie 89 und schreibt ihr Leben auf, für dessen Ende sie schon einen festen, unumstößlichen Entschluss gefasst hat.

Nach drei Lieben, drei Toden, Verrat und Mord möchte sie sich das Leben nehmen.

Sebastian Barry trifft mit seiner Erzählweise den richtigen Ton. Die Figuren sind gut gezeichnet, ihr Leben ist nie nur schwer, sondern hat auch seine leichten Momente, mit Freundschaften, Hilfsbereitschaft, Liebe. Wie immer betört Barry mit wunderbaren Bildern. So, wenn er von Bäumen spricht, „in deren Laub der Wind wie eine Vogelschar hauste“. Oder von der Sonne, die „wie ein Betrunkener unter den Tisch der Welt“ glitt.

Lilly schreibt ihr Leben auf und wie die Vergangenheit sie immer wieder einholte. “Wir mögen immun sein gegen Typhus, Tetanus, Windpocken und Diphtherie, nie aber gegen die Erinnerung, gegen sie gibt es keine Impfung.“ Erst beim Aufschreiben ihrer Lebensbeichte stellt sich ein eigentümlicher Seelenfrieden ein.

Beate Lemcke

Sebastian Barry „Mein fernes, fremdes Land“, aus dem Englischen von Petra Kindler und Hans-Christian Oeser, Steidl Verlag, Broschur, 259 Seiten, 18,80 Euro

 

 

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