Für einen Weg aus dem Konflikt

Gerade rechtzeitig zum 25. Jahrestag des Karfreitagsabkommens erschienen Ralf Sotschecks Nordirland-Reportagen

Bei Kommunalwahlen dürfen nur Hausbesitzer votieren und Geschäftsleute haben bis zu sechs Stimmen? – Oh je, das ist ja komplett undemokratisch, in welchem Schurkenstaat mag sich das wohl zugetragen haben? – Nun, das ist gar nicht mal so lange her und war gar nicht mal so weit weg. In Nordirland nahm unter solchen Verhältnissen ein lange währender blutiger Konflikt seinen Anfang. Die Ära der sogenannten Troubles begann 1968 als Kampf um demokratische Grundrechte.

Ein neuer Sammelband mit Reportagen von Ralf Sotscheck bringt den Lesern diese Zeit nahe. Er schlägt einen Bogen vom Bloody Sunday übers Belfaster Abkommen bis zu den neuen Ungewissheiten nach dem Brexit.

Verwirrende Verhältnisse

Sotschecks Bücher und Artikel für die taz haben über Jahrzehnte viele Irlandfreunde begleitet. Anders als seine legendäre „Gebrauchsanweisung für Irland“, die auch Anfänger erbaut, ist der gerade erschienene Nordirland-Band eher etwas für Fortgeschrittene. Und denen durchaus zur Freude, wollen sie doch nicht immer beim Urschleim von der Grünen Insel der tausend Schattierungen und ihrer Mythologie anfangen.

Wer nicht so in der Materie steckt, sollte zuerst Glossar und Chronologie lesen. Die Verwirrung, die dann noch besteht, ist einfach den verwirrenden Verhältnissen geschuldet.

Sotscheck schreibt von den 60er und 70er Jahren mit ihren Bombenattentaten und Überfällen, die Texte sind von großer Faktendichte. Erschütternd ist der Einfallsreichtum der probritisch geprägten Polizei im Verschleiern von Taten, da werden Fluchtwagen verschrottet, Beweise weggeschafft. Immer wieder das gleiche Versäumnis der Polizei, das bewußte Drüber-Weg-Schauen, wenn es politisch in den Kram passte. Wie bei den Ermittlungen im Fall des zweitältesten Opfers des gewaltsamen Konflikts in Nordirland. Der Mann war 87 und wurde beim Fußballschauen im Pub von UVF-Leuten (sie führten eine Mordkampagne gegen Katholiken) hingemetzelt. Die Unterlagen für die Ermittlungen in dem Fall wurden geschreddert, weil sie angeblich asbestverseucht waren.

Im Laufe des Nordirland-Konflikts wurden (Stand Ostern 2023) an die 4000 Menschen getötet und mehr als 30000 verletzt.

Schatten und Licht Nordirlands

Gerade dieser Tage, zu Ostern 2023, jährt sich zum 25. Mal das Belfaster Abkommen, das sogenannte Karfreitagsabkommen, das zu einer katholischen Machtbeteiligung führte und die Situation in den zu Großbritannien gehörenden sechs nordwestlichen Grafschaften mit der 499 Kilometer langen Grenze zur Republik befriedete.

Wären Gerry Adams und die IRA-Führung nicht bereit gewesen, einen Weg aus dem Konflikt zu suchen, hätte es keinen Friedensprozess gegeben, darauf verweist der Journalist Ed Moloney in Sotschecks Buch. Brandanschläge und das berüchtigte Kneecapping sowie die Vertreibung von Familien aus ihren Häusern gibt es immer noch. Alles andere als eine Touristikwerbung ist die unwirtliche, feindselige, trostlose Seite Nordirlands.

Aber es gibt auch die andere, das aufblühende Nacht- und Kulturleben Belfasts. Die Schlitzohrigkeit der Iren im Handhaben und Umgehen von Brexitregeln. Beim Erzählen kommt hier die wunderbare Sotscheck-Handschrift zum Tragen, bei der Humor sich aus lakonischer Schilderung ergibt.

Eine Wahrheit über Irland spricht Tante Violett in Kenneth Branaghs Film „Belfast“ aus: „Die Iren sind dazu geboren, wegzugehen. Sonst hätte der Rest der Welt ja keine irischen Pubs.“

Beate Lemcke

Ralf Sotscheck „Nordirland“, Verlag Andreas Reiffer, 176 Seiten, Hardcover, mit Fotografien von Derek Speirs, 18 Euro

 

 

 

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